[194] 61. Die wunderbare Flöte

Ein junger Schweinehirt hatte eine so gute Flöte, daß, wenn er sie blies, alles geschah, was er nur wünschte. Einmal war er mit seiner Schweineherde an der Landstraße; er blies die Flöte, und die Schweine tanzten. Da ging eine reiche Kaufmannstochter des Wegs vorbei. Sie war sehr verwundert darüber, daß die Schweine tanzten, und wollte dem Burschen ein Schwein abkaufen. Der Bursche war [194] auch bereit, es zu verkaufen. Er stellte nur die Bedingung, daß die Kaufmannstochter ihm ihr Gesicht zeigen solle.

Die Kaufmannstochter war's zufrieden. Sie lüftete ihren Schleier und zeigte dem Burschen ihr schönes Gesicht. Dann ließ sie das Schwein nach Hause bringen. Sie hoffte nun, daß das Schwein zu tanzen anfangen werde, das Schwein tanzte aber gar nicht.

Am andern Tage klagte die Kaufmannstochter dem Burschen ihr Leid: »Hör einmal, Bursch, das gestrige Schwein tanzt gar nicht!«

Der Bursche antwortete: »Wohl wahr, jenes tanzt nicht gut, aber die andern tanzen besser!«

Die Kaufmannstochter wollte sich sogleich ein anderes Schwein kaufen.

Der Bursche erwiderte: »Zeigt mir Euren Hals, dann bekommt Ihr ein Schwein, welches tanzt!«

Die Kaufmannstochter zeigte ihm ihren Hals. Dann bekam sie ein anderes Schwein. Daheim erzählte der Bursche seinem Herrn, daß der Wolf das Schwein geholt habe.

Die Kaufmannstochter wartete, daß das Schwein zu tanzen anfange, aber sieh mal an! Das Schwein tat nichts, was nicht auch andre Schweine tun.

Am nächsten Tage ging die Kaufmannstochter wieder, dem Burschen ihr Leid zu klagen, daß das Schwein nicht tanze.

Der Bursch entgegnete: »Das Schwein versteht nicht allein zu tanzen. Nehmt noch ein drittes dazu, das tanzt am allerbesten. Dann tanzen sie alle zusammen!«

Die Kaufmannstochter fragte, was das Schwein koste.

Der Bursche antwortete: »Zeigt mir Euren Hals bis zu den Armen!«

Die Kaufmannstochter zeigte es ihm. Der Bursche sah, daß die Kaufmannstochter unter dem einen Arm Goldhaare hatte, unter dem anderen Silberhaare. Der Bursche gab ihr das dritte Schwein ab.

Zu Hause erzählte der Bursche seinem Herrn, daß der Bär das Schwein geholt habe. Der Herr jagte den Burschen fort, weil er jeden Tag sich ein Schwein rauben lasse.

[195] Der Bursche ging seines Weges und blies zum Zeitvertreib seine Flöte. Da sieht er: es kommt ein Wagen, und drei Männer sind darin. Der Bursche bläst die Flöte und denkt: ›Die Pferde sollen tanzen, die Herren sich prügeln!‹

Sofort begannen die Pferde vor dem Wagen zu tanzen und die Herren im Wagen sich zu prügeln. Die Pferde liefen aber immer weiter.

Nach kurzer Zeit holte wieder ein Wagen den Burschen ein, ein Herr saß darin, ein schwarzer Hengst war vorgespannt. Der Bursche blies seine Flöte und dachte: ›Möchte jener Herr mich in den Wagen nehmen!‹

Der Herr hielt sogleich das Pferd an und rief den Burschen in seinen Wagen. Er fragte den Burschen: »Fuhr hier nicht ein Wagen vorbei, in dem drei Herren saßen?«

Der Bursche erwiderte: »Freilich fuhr er vorbei, aber die Herren zankten sich untereinander!«

Der Herr erklärte: »Wie sollten sie sich denn nicht zanken? Wir fahren alle vier, um die Kaufmannstochter zu freien. Sie zankten sich deswegen, wer von ihnen die Kaufmannstochter bekommen solle.«

In solchem Gespräch erreichten sie das Haus des Kaufmanns.

Der Bursche bat: »Ich komme mit in die Stube hinein und kriech unter den Tisch. Wenn Ihr zu essen anfangt, so werft auch mir einige Mundvoll unter den Tisch hinab!«

Der Herr versprach es. Die andern Herrn waren schon in der Stube und säuberten ihre blutigen Gesichter und Kleider. Jener, der mit dem Burschen gekommen war, wurde am allerfreundlichsten aufgenommen.

Man setzte sich nun an einen prächtigen Tisch, um zu speisen. Während des Essens warf der Herr dem Burschen unter dem Tisch auch etwas zu.

Nach der Mahlzeit sprach der Kaufmann: »Nur derjenige bekommt meine Tochter, der ihre besondern Kennzeichen nennen kann!«

Der Bursch unter dem Tisch sprach: »Eure Tochter hat unter dem einen Arm Goldhaare, unter dem andern Silberhaare!«

[196] Der Herr sagte gleich: »Habt ihr es nicht gehört, ich hab es gesagt!«

Die Kaufmannstochter hatte aber deutlich gehört, daß die Stimme unter dem Tisch hervorgekommen war. Man begann zu suchen, fand unter dem Tisch den Burschen und fragte ihn, ob er geantwortet habe. Kühn erwiderte der Bursche, er habe so gesprochen. Dann setzte er sogleich die Pfeife an den Mund und dachte, die Kaufmannstochter soll sich in ihn verlieben.

Sofort sprach die Kaufmannstochter zu den andern Herrn: »Dieser Bursche hat meine besondern Kennzeichen genannt, deshalb nehm ich ihn zum Mann!«

Der Kaufmann war damit zufrieden, die Freier dagegen zogen erbost ihres Weges. Dem Burschen wurden feine Kleider angezogen. Die Hochzeit dauerte ununterbrochen sieben Tage und Nächte. Es wurde genug gegessen und getrunken, genug musiziert und getanzt. Der Bursche lud auch seinen früheren Herrn zur Hochzeit ein, der kam aber nicht.

Nach dem Tode des Kaufmanns erbte der Bursche dessen ganzes Vermögen. Zu der Zeit aber verschwand die Flöte des Burschen. Er hatte sie ja auch nicht mehr nötig, weil er sowieso schon reich genug war.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 194-197.
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