[228] 72. Die schnellfüßige Königstochter

Es war einmal eine sehr schöne Königstochter, die allerorten berühmt war, denn es kamen gar viele Freier zu ihr, von Morgen und Abend, von Mittag und Mitternacht her, so daß oftmals die ganze Woche durch der Hof von den Pferden der Bewerber nicht leer wurde. Aber das Freien ward den Männern nicht so leicht wie unseren Zeitgenossen, die, wenn sie auch manchmal an einem Morgen vor sieben Türen anklopfen müssen1, doch dabei den Hals nicht verlieren. Mit der schmucken Königstochter war das aber anders, und es durfte keinem Freier, der seine Bewerbung anbringen [228] wollte, an Mut fehlen. Die Königstochter hatte nämlich sehr schnelle Füße und wollte nicht eher heiraten, als bis sie einen Freier fände, der ebenso schnellfüßig sei, so daß er mit ihr nicht nur um die Wette, sondern ihr auch noch ein Stück vorbeilaufen könne. Nun, das hätte weiter nichts geschadet, wenn mit dem Wettlauf nicht noch eine andere Bedingung verbunden gewesen wäre, nämlich, daß jeder Freier, dessen Schritte die der Jungfrau nicht überholen könnten, sofort um einen Kopf kürzer gemacht worden wäre. Die abgehauenen Köpfe wurden dann jedesmal, gleichsam ihnen selbst zum Spott und andern zum Schrecken, auf lange Stangen vor des Königs Behausung aufgespießt. Man erlebte nun freilich, daß die zur Abschreckung aufgesteckten Köpfe die gute Wirkung hatten, das unaufhörliche Zuströmen von Freiern zu verringern, daß sie auch manchen Ankömmling vor der Pforte noch zur Umkehr bewogen, ehe er das Glücksspiel versuchte. Gleichwohl stellte sich immer noch von Zeit zu Zeit ein und der andere Tor ein, der nicht wieder nach Hause kam, sondern seinen Kopf den Raben zum Futter ließ.

Jetzt hatten schon so lange keine Hufe von Freier tragenden Rossen den Weg zum Königssitze gestampft, daß die Leute schon anfingen zu hoffen, die unsinnigen Fahrten würden gar nicht mehr vorkommen, als mit einem Male ein von Sehnsucht getriebener Königssohn aus weiter Ferne her sich abermals auf den Weg machte. Dieser Freier war aber ein gar schlauer Mann und hatte deshalb schon daheim ein paar Jahre oder noch länger seine Beine täglich im Laufen geübt. Jetzt verstand er seine Sache aus dem Grunde, denn in dem ganzen Königreiche, welches sein Vater beherrschte, war unter Männern und Weibern niemand, den der Königssohn nicht im Lauf überholt hätte. Wenn er trotzdem mit Kutsche und Pferden auf die Freite fuhr, so wollte er einmal dadurch den Leuten seinen Reichtum zeigen und dann auch seinen Beinen Ruhe gönnen, damit sie nicht vor dem Wettlauf ermüdeten. Einen halben Scheffel Gold nahm der Jüngling für die Wegekost mit; dasselbe wurde, als wäre es ein Hafersack, hinten auf der Kutsche festgebunden. Der Königssohn war auf seiner Freierfahrt noch nicht weit gekommen, da sieht er [229] von weitem ein Menschenbild im Fluge herankommen, wie von Vogelfittichen getragen, und nach wenigen Augenblicken saust auch der Schnellfuß wie der Wind an der Kutsche vorbei. »Halt still, halt still!« schreit der Königssohn aus Leibeskräften, damit das Ohr des Windfüßigen es vernehme. Alsbald hält der Mann seinen Lauf an und bleibt stehen, um zu hören, weshalb er gerufen wird. Da erst wird der Königssohn gewahr, daß dem Läufer an beiden Füßen ein Mühlstein hängt. Dieser seltsame Umstand läßt die Laufkraft des Mannes in des Königssohns Augen noch gewaltiger erscheinen, darum fragt er: »Weshalb hast du die Mühlsteine an den Füßen?« – »Meine Füße würden sonst im schnellen Laufe nicht am Boden haften«, erwidert der Mann, »und ich könnte unversehens wer weiß wohin geraten, wenn die Füße keine schwerere Last zu tragen hätten als bloß den Körper.« Der Königssohn denkt alsbald, einen solchen Mann könnte ich in Dienst nehmen, wer weiß, wie die Sache geht, vielleicht kann ich einen Stellvertreter zum Wettlauf stellen, falls ich selber nicht gewiß wäre durchzukommen. »Hast du nicht Lust, in meinen Dienst zu treten?« fragte er den Mann. »Warum nicht, wenn wir handelseinig werden. Was versprecht Ihr mir denn als Lohn?« Der Königssohn erwidert: »Alle Tage frisches Essen und Trinken, soviel dein Herz begehrt, schöne vollständige Sommer- und Winterkleidung und ein Stof2 Gold als Jahreslohn.«

Der Mann war damit zufrieden, und der Königssohn hieß ihn, sich hinter der Kutsche auf den Geldsack zu setzen. »Wozu?« fragte der Mann. »Glaubt Ihr, daß Eure Pferde schnellere und stärkere Beine haben als ich? Seid unbesorgt, ich werde ihnen immer voraus sein.« So zogen sie denn weiter.

Nach einer Weile sieht der Königssohn einen Mann am Wege sitzen, der eine Flinte an die Wange gelegt hat, als ob er auf irgendeinen Vogel ziele. Aber wie scharf auch der Königssohn und sein Diener nach allen Seiten hin spähten, sahen sie doch weder auf der Erde noch in der Luft irgend etwas, worauf der Schütze hätte zielen können. »Was tust du da?« fragte der Königssohn. Der Schütze wies mit der Hand, als wollte er zu verstehen [230] geben: sprecht kein Wort, ihr verscheucht mir den Vogel. »Was machst du da?« fragte der Königssohn zum zweiten, und als keine Antwort erfolgte zum dritten Male. »Seid still«, sagte der Schütze mit leiser Stimme, »bis ich Euch Antwort gebe, ich muß erst den Vogel herunterschießen.« Nach einem Weilchen ließ sich ein Knall hören, worauf der Schütze sogleich aufstand und also sprach: »Ich habe den Vogel, jetzt kann ich Euch Antwort geben. Schon eine Weile kreiste eine Mücke um den Turm der Stadt Babylon und wollte sich auf den Turmknauf niederlassen; ich konnte das aber nicht dulden, denn die Mücke ist hundert Pfund schwer, sie hätte die feine Knopfspitze beschädigen können, deshalb schoß ich den Feind nieder.« Der Königssohn fragte verwundert: »Wie kannst du denn so weit sehen?« – »Was für eine winzige Weite ist das«, lachte der Mann, »mein Auge reicht viel weiter.« – »Wartet ein wenig«, rief der schnellfüßige Läufer dazwischen, »ich will hin und sehen, ob der Mann aufgeschnitten oder die Wahrheit gesagt hat.« Mit diesen Worten war er auf und davon wie der Wind, und nach einigen Augenblicken hatte ihn der Königssohn aus dem Gesicht verloren.

›Einen solchen Schützen könnte ich wohl auch einmal irgendwo brauchen‹, denkt der Königssohn und geht sogleich daran, den Vertrag abzuschließen. »Willst du zu mir als Diener kommen?« fragte er den scharfsichtigen Schützen. »Warum nicht«, erwidert der Mann, »wenn wir handelseinig werden können. Was versprecht Ihr mir als Löhnung?« Der Königssohn sagt: »Täglich frisches Essen und Trinken, soviel das Herz begehrt, vollständige schöne Kleidung für Sommer- und Winterbedarf und ein Stof Gold als Jahreslohn.« Der Schütze war damit einverstanden, und eben langte auch der Schnellfuß wieder von Babylon an, auf dem Rücken die heruntergeschossene große Mücke, die ihm gar nicht lästig war. Der scharfsichtige Schütze setzte sich hinter der Kutsche auf den Goldsack, und man fuhr wieder weiter.

Sie waren noch nicht viel weiter gefahren, da sah der Königssohn, der, wie kluge Leute pflegen, Augen und Ohren überall hatte, am Wege einen Mann, der auf der Erde lag und das Ohr an den Boden hielt, als wollte er lauschen; des Mannes Ohr [231] war röhrenförmig gestaltet und drei Klafter lang. »Was machst du da?« fragte der Königssohn. Der Horchende erwiderte: »In der Stadt Rom sind gerade jetzt fünf Könige versammelt, die heimlich über einen Krieg ratschlagen; ich wollte nun eben hören, ob der Krieg auch uns berühren wird.« Der Königssohn fragte verwundert: »Wie kannst du in so weiter Ferne hören?« Der Mann erwiderte: »Das ist nun gerade nicht weit, mein Ohr reicht noch weiter, es kann wohl kaum irgendwo auf der Welt etwas gesprochen werden, was nicht an mein Ohr dringen würde, wenn ich anders Lust hätte, von allem leeren Weibergeschwätz Kenntnis zu nehmen.« Der Königssohn dachte gleich bei sich: ›Wer weiß, ob eines solchen Mannes Beistand nicht manchmal nötig werden kann‹, und fragte den Ohrenmann: »Hättest du nicht Lust, in meinen Dienst zu treten?« – »Warum nicht«, erwiderte der Ohrenmann, »wenn wir handelseinig werden. Was versprecht Ihr mir denn zum Jahreslohn?« Der Königssohn gab zur Antwort: »Täglich frisches Essen und Trinken, soviel dein Herz begehrt, vollständige schöne Kleidung und ein Stof Gold jährlichen Lohn.« Der Ohrenmann war damit sehr zufrieden, worauf der Handel geschlossen wurde. Der Mann drehte seine lange Ohrröhre zusammen, damit sie den Boden nicht berühre, setzte sich neben dem Scharfsichtigen auf den Goldsack hinter der Kutsche, und so fuhren sie weiter.

Sie waren wieder eine Strecke Wegs gefahren, als sie auf einen großen Wald stießen. Schon eine Weile vorher, ehe der Wald sich vor ihnen auftat, hatte der Königssohn bemerkt, wie seltsam einzelne Wipfel von Zeit zu Zeit klafterhoch über die andern Bäume des Waldes sich emporhoben und dann plötzlich wieder ganz verschwanden. Er fragte seine Diener, was die Sache zu bedeuten habe, aber keiner konnte ihm darüber Aufschluß geben. Stand jemand am Baume und hieb ihn mit der Axt um, so konnte der Baum wohl, sobald er zu Boden fiel, dem Gesichte entschwinden, aber wie ein Baum erst den Wipfel ein paar Klafter hoch gen Himmel streckt, bevor er niederfällt, das konnte menschlicher Verstand nicht erklären. Allgemach betraten nun unsere Wanderer den Wald, und hier sollten sie denn glücklicherweise[232] durch eigene Anschauung erfahren, wie es mit dem wunderbaren Emporsteigen der Bäume zuging. Sie waren noch gar nicht lange im Waldesdickicht gefahren, als sie den Baumlupfer gerade bei der Arbeit erblickten. Ein Mann nämlich wählte sich einen passenden Baum aus, trat dann darauf zu, packte mit beiden Fäusten den Stamm und zog ihn samt den Wurzeln aus dem Boden, als wäre es ein Kohlkopf oder eine Steckrübe gewesen. Als er sah, daß die Kutsche hielt, unterbrach er die Arbeit und trat einige Schritte näher, weil er meinte, der in der prächtigen Kutsche fahrende Herr könnte wohl des Waldes Eigentümer sein, der ihm zu wehren komme. Deswegen sagte er demütig: »Geehrter Herr! Nehmt es nicht für ungut, wenn ich ohne Erlaubnis etwas mageres Kleinholz aus Eurem Walde genommen habe, das größere habe ich nicht angerührt; die Mutter wollte Brei kochen und schickte mich deshalb in den Wald, daß ich eine Tracht Holz nach Hause brächte, um Feuer unter den Grapen zu machen. Ich wollte eben noch einige Stücke zulegen und mich dann auf den Weg machen, als Ihr herbeikamt.« Der Königssohn wunderte sich sehr über des Mannes Stärke, doch dachte er: ›Ich will mich Spaßes halber als Herr des Waldes gebärden, bis ich seine Kraft noch besser erprobe‹, deshalb sagte er zum Baumlupfer: »Ich wehre dir nicht, nimm meinetwegen noch einen viel stämmigeren Baum dazu.« Mit vergnügtem Gesicht schritt der Mann zurück, packte so fort einen Baum, den er mit den Händen nicht umspannen konnte, und riß ihn – krach! – aus dem Boden heraus. »Hast du nicht Lust, in meinen Dienst zu treten?« fragte der Königssohn. »Warum nicht, wenn wir handelseinig werden«, erwiderte der Mann. »Was für einen Jahreslohn versprecht Ihr mir denn?« Der Königssohn erwiderte: »Jeden Tag frisches Essen und Trinken, soviel das Herz begehrt, vollständige Kleidung und jährlich einen Stof Gold.« Der Mann kratzte sich hinter den Ohren, als wäre er in betreff des Lohnes noch unentschlossen, sagte dann aber: »Gönnet mir nur erst noch so viel Zeit, daß ich die Tracht Holz der Mutter bringe und ihr zugleich sage, wohin ich gehe, sie könnte sonst bis zum Sterben warten, dann eile ich sogleich zurück.« Nachdem er die Erlaubnis erhalten, nahm [233] er das ausgerissene Holz auf, ging raschen Schrittes von dannen und kam auch ohne viel Zeitverlust zurück. Der Königssohn war vergnügt, daß er wieder einen Knecht gewonnen hatte, dessen Hilfe ihm in unerwarteter Gefahr zustatten kommen konnte.

Man hatte den Wald schon längst im Rücken und war ein gutes Stück im offenen Felde weitergefahren; in weiter Ferne erblickte man eine Stadt und eine Strecke diesseits der Stadt sieben Windmühlen, welche sämtlich auf einer Seite des Weges in einer Reihe nebeneinanderstanden. Der Königssohn, welcher scharf auf alles achtete, was vorging, bemerkte sogleich, daß die Flügel sämtlicher Windmühlen sich drehten, obwohl die Luft ringsum so ruhig war, daß kein Blättchen und Federchen sich rührte. Weiterfahrend, spürte er dann plötzlich einen heftigen Wind, wie aus einer Röhre oder wie er aus einem Mauerloch zuweilen ins Gemach dringt; nachdem er sich aber einige Schritte von der Stelle entfernt hatte, hörte der Wind ebenso plötzlich wieder auf. Der Königssohn ließ die Blicke überall umherschweifen, gewahrte aber lange nichts Absonderliches, woraus er auf den Winderzeuger hätte schließen können. Als sie nur noch einige Feld Weges vom Stadttor entfernt waren, sieht der Königssohn plötzlich einen Mann von mittlerem Wuchse, der, die Füße gegen einen großen Stein gestemmt und den Leib etwas rückwärts gebogen, eine ganz eigentümliche Arbeit zu verrichten schien. Der Königssohn ließ halten und fragte den fremden Mann: »Was machst du da, Brüderchen?« Der Mann erwiderte: »Was soll ich armer Schlucker machen? Da ich nirgends einen besseren Dienst fand, der mich hätte ernähren können, mußte ich notgedrungen das Amt übernehmen, bei stillem Wetter, wenn kein Wind geht, die Stadtmühlen durch Blasen in Gang zu bringen. Aber kann ich mir mit diesem dummen Geschäft wohl Geld verdienen? Kaum soviel, daß ich nicht Hungers sterbe.« – »Ist es dir denn ein so leichtes Geschäft, die Mühlen durch Blasen in Gang zu bringen?« fragte der Königssohn. »Nun«, erwiderte der Mann, »das könnt Ihr mit eigenen Augen sehen. Mein Mund bleibt immer geschlossen, und mit den Fingern drücke ich ein Nasenloch zu, damit nicht zuviel Wind entsteht, weil sonst die Windmühlenflügel samt der [234] Mühle in die Luft fliegen würden.« – »Hast du nicht Lust, in meinen Dienst zu treten?« fragte der Königssohn. »Warum nicht«, erwiderte der Mühlenbläser, »wenn wir handelseinig werden und Ihr mir so viel gebt, daß ich nicht länger Hunger zu leiden brauche. Was für einen Lohn versprecht Ihr mir, wenn ich zu Euch in den Dienst treten soll?« Der Königssohn erwiderte: »Was ich den andern Knechten gebe, das sollst du auch bekommen: alle Tage frisches Essen und Trinken, soviel dein Herz begehrt, schöne vollständige Kleidung und obendrein noch ein Stof Gold als Jahreslohn.« Der Windbläser sagte mit fröhlicher Miene: »Damit kann sich ein Mann schon begnügen, bis er einmal zufällig etwas Besseres findet. Es sei so, schlagen wir ein! Den Mann am Wort, den Stier am Horn, sagt ein alter Spruch.« Der Königssohn nahm den neuen Knecht mit und zog dann mit seinen vier Dienern der Königsstadt zu, um Glück oder Unglück zu erproben: mochte er nun des schönen Mädchens Gemahl werden oder seinen Kopf auf die Stange liefern.

Als er in die Königsstadt kam, ließ er für sich und seine Diener in dem besten Gasthof Wohnung nehmen und befahl dem Wirte noch ausdrücklich, den Dienern reichliches Essen und Trinken zu geben, jeglichem, was er selber wünsche. Eine Handvoll Gold auf den Tisch werfend, sagte der Königssohn: »Nimm das wenige als Handgeld, wenn wir wieder scheiden, so werde ich schon noch zulegen, was fehlt.« Dann befahl er, Schneider und Schuster aus der ganzen Stadt zusammenzurufen, die seinen Dienern stattliche Gewänder fertigen sollten, denn obwohl jeglicher in dem, was seines Amtes war, vortrefflich Bescheid wußte, so war doch keinem deshalb ein besseres Gefieder gewachsen, so daß man an ihnen recht bestätigt finden konnte, was ein altes Wort sagt: »Neun Gewerbe, das zehnte Hunger«, oder: »Einem schönen Singvogel ist nicht immer ein hübscher Rock gewachsen!«

Der schnellfüßigen Jungfrau Vater, der alte König, hatte indes schon durch Gerücht von der Pracht und dem Reichtum des neuen Freiers gehört, noch ehe der Jüngling selbst vor ihm erschien, was erst am dritten Tage geschah. Die schönen Kleider und Schuhe für die Diener waren nicht früher fertig geworden. Als [235] der alte König den stattlichen, blühenden Jüngling erblickt hatte, sagte er mit väterlicher Huld: »Lasset, werter Freund, diesen Wettlauf lieber unversucht; wären Eure Füße auch noch so geschwind, so könntet Ihr doch nichts gegen meine Tochter ausrichten, da sie Füße hat wie Flügel. Mich dauert Euer junges Leben, das Ihr unnütz hingeben wollt.« Der Freier erwiderte: »Geehrter König! Ich hörte von den Leuten, daß, wenn jemand nicht selbst mit Eurer Tochter um die Wette laufen wolle, es ihm gestattet sei, seinen Diener oder Lohnknecht zu schicken.« – »Das ist allerdings wahr«, erwiderte der König, »aber aus solch einem Gehilfen erwächst auch nicht der geringste Nutzen. Bleibt der Gehilfe zurück, so wird nicht sein Kopf genommen, sondern der Eurige muß dafür haften und wird vom Rumpfe getrennt, um auf die Stange gesteckt zu werden.« Der Königssohn sann eine Weile nach und sagte dann mit Entschlossenheit: »Sei es denn so. Einer meiner Diener soll das Glück versuchen, und mein Haupt soll, wenn er Unglück hat, büßen. Ich bin einmal in dieser Angelegenheit von Hause gekommen, und ehe ich, ohne die Sache verrichtet zu haben, zurückgehe und mich zum Gespötte der Leute mache, verliere ich lieber meinen Kopf. Besser, daß die Leute den toten Kopf auf der Stange als den lebenden Mann verspotten.«

Wiewohl der alte König noch gar viel redete und den Freier mit aller Macht von seinem Vorhaben abzubringen suchte, so half es doch nichts, sondern er mußte endlich nachgeben. Der Wettlauf sollte am nächsten Tage vor sich gehen. Als der Königssohn fortgegangen war, sprach der Vater zu seiner Tochter Worte, die der langohrige Mann im Gasthof erhorchte und dem Königssohn wiedersagte: »Liebes Kind, du hast bis zum heutigen Tage viele junge Männer ins Verderben gestürzt, was mir schon oftmals das Herz betrübte. Aber keiner von den hingeopferten Freiern war so sehr nach meinem Sinne wie der junge Königssohn, der morgen die Kraft seiner Beine im Wettlaufe mit dir erproben will, er ist ein blühender Mann und von kluger Rede. Aus Liebe zu mir hemme morgen die Schnelligkeit deiner Füße, damit der Freier oder sein Diener dich besiege und ich endlich einen Schwiegersohn bekomme, der nach meinem Tode das Reich erbe, da ich [236] keinen Sohn habe.« – »Was?«, erwiderte die Königstochter, während ihr Antlitz vor Stolz und Zorn sich rötete, »soll ich um eines Burschen willen die Stärke meiner Füße verleugnen, um dadurch unter die Haube zu kommen? Nein, durchaus nicht, lieber bleibe ich zeitlebens eine alte Jungfer. Wer hat ihn hergetrieben? Ich habe ihn nicht gerufen, sowenig als diejenigen, welche vor ihm hierhergekommen sind. In unserem Walde wächst noch Holz genug, um seinen törichten Kopf und alle die von seinesgleichen zu tragen, wenn man sie an die Luft stellt, damit sie ihre tolle Hitze abkühlen. Gefällt Euch der Freier, so schickt ihn lieber wieder heim, ehe er den Lauf versucht, aber von mir hoffet auf keine Barmherzigkeit für ihn. Wer nicht hören will, muß fühlen.« Der König sah, daß seine Tochter in diesem Stücke unerschütterlich sei, und gab allen weiteren Widerspruch auf.

Darnach, als der Ohrenmann dem Königssohn dies Gespräch erzählt hatte, trat der schnellfüßige Diener ins Zimmer und sagte: »Ich schäme mich, so vor den Leuten mit meinen Mühlsteinen herumzulaufen, kaufet lieber sechs Ochsenfelle, lasset daraus einen Ranzen machen, dann kauft noch zur Beschwerung für den Ranzen so viel Eisen, als meine Fußsteine wiegen, so ist alles in Ordnung; die Leute werden mich für einen reisenden Handwerksburschen halten.« Der Königssohn erfüllte ohne Widerrede des Mannes Verlangen, ließ Felle und Eisen kaufen, soviel für nötig erachtet wurde, und den andern Morgen war der Ranzen beizeiten fertig. Der Mann nahm den Ranzen auf den Rücken und setzte sich in Gang, obwohl die ungewohnte Last auf dem Rücken den Füßen anfangs etwas fremd vorkam; sie wollten sich an diese weiter abliegende Fessel nicht recht kehren, bis sie sich allmählich auch dieser Hemmung fügen lernten.

Auf dem für den Wettlauf bestimmten Platze hatte sich eine unzählige Menge Volks versammelt; die einen lachten über den Ranzenmann, die andern sagten: »Ein Vernünftiger ist darauf bedacht, wenn er laufen will, die überflüssigen Kleider abzulegen, diesem Manne aber ist es nicht eingefallen, auch nur den Ranzen von sich zu tun.« Der Ohrenmann meldete diese Reden sofort [237] dem Königssohn; aber der Läufer achtete ihrer nicht. Zur Rennbahn war eine Gasse von der Länge einer Meile abgesteckt und zu beiden Seiten mit Bäumen bepflanzt, die den Laufenden Schutz gegen die brennende Sonnenhitze gaben. Am Ende der Gasse sprudelte eine kleine Quelle ihr Wasser aus dem Boden hervor. Es war festgesetzt, daß die Wettlaufenden mit einer leeren Flasche an die Quelle laufen und dort die Flasche mit Wasser füllen sollten, und wer dann beim Zurücklaufen, sei es um einen oder zwei Schritte, vor dem andern wieder eintreffe, der solle der Sieger sein. Als nun die Königstochter und des Freiers schnellfüßiger Diener auf das gegebene Zeichen gleichzeitig ausliefen, dauerte es nicht gar lange, so war der Ranzenmann wie der Wind an der Jungfrau vorüber, lief zur Quelle, füllte die Flasche und trat den Rücklauf an. Auf dem halben Wege kam ihm die Königstochter, die noch erst zur Quelle lief, entgegen. »Halt ein wenig an, Brüderchen!« bat die Königstochter. »Ich habe mir den Fuß etwas verstaucht. Gib mir aus deiner Flasche ein paar Tropfen Wasser auf den Fuß und verschnaufe, dann gehen wir wieder vorwärts.« – »Meinethalben«, sagte der Mann, »ich habe ja keine Eile; ich bleibe, wenn Ihr wollt, hier sitzen, bis Ihr von der Quelle zurückkommt, dann laufen wir miteinander weiter.« Als er aber niedersaß, um auszuruhen, und keinen Betrug fürchtete, hielt ihm die Königstochter, als ob sie ihm schmeicheln wollte, ein Schlafkraut unter die Nase, so daß er sofort in Schlaf fiel. Dann nahm ihm die Jungfrau die gefüllte Flasche aus der Hand und trat hinkend den Rücklauf an. Der Augenmann sah den Vorfall, nahm seine Flinte und schoß von einem Baume einen Zweig so geschickt herunter, daß derselbe dem Schnellfuß auf die Nase fiel und ihn aus dem Schlafe weckte. Zu seinem Schrecken findet der Mann eine leere Flasche und sieht, daß die Maid schon eine Strecke auf dem Rückwege voraus ist. Jetzt strengte er seine Füße an, daß die Fersen Funken sprühten, flog zum zweiten Male zur Quelle, füllte die Flasche und sauste dann wie der Wind zurück. Richtig überholte er die Königstochter schon, als immer noch eine gute Wegstrecke bis zum Ziel übrig war, und langte einige Augenblicke vor ihr an. So war der Sieg dem Freier geblieben, der [238] diesmal seinen Kopf nicht auf die Stange verkauft hatte; die Königstochter aber ging in zornigem Mute nach Hause, denn solch einen Possen hatte sie noch in ihrem Leben nicht erfahren, daß irgendein menschliches Wesen raschere Füße gehabt hätte als sie selber.

Der Königssohn begab sich mit seinen Dienern in den Gasthof, ließ ein prächtiges Mahl anrichten und machte dem Läufer ein reiches Geschenk, desgleichen auch dem Schützen, der den Läufer zu rechter Zeit aufgeweckt hatte. Gleichwohl vermochte der Lärm des Gelages nicht das Gehör des Ohrenmannes zu verwirren, daß er nicht vernommen hätte, was derweil im Königshause zwischen Vater und Tochter gesprochen wurde. »Jetzt, liebes Kind«, sagte der König, »mußt du dich vermählen, da hilft nichts mehr, denn deiner Füße Schnelligkeit ist durch einen Schnelleren überwunden.« Die Tochter beteuerte jedoch mit den eindringlichsten Worten, wenn der Vater sie mit Gewalt verheiraten wolle, so würde sie wohl vorher ihr Leben lassen, als die Frau des Mannes werden, der durch seinen Diener zufällig über sie gesiegt habe. Der König versuchte es bald mit Drohungen, bald mit Schmeichelworten, aber alles war vergebens. »Meinethalben«, rief die Tochter aus, »mögt Ihr ihm das halbe Königreich zur Abfindung anbieten, aber zur Frau wird er mich nicht bekommen, solange Leben in mir ist.« Der Königssohn wurde sehr verdrießlich, als der Ohrenmann diese Reden gemeldet hatte, aber der Baumlupfer sagte: »Betrübt Euch darüber noch nicht, Mädchen gibt es auf der Welt mehr, als so eine Königstochter meint, und auch noch schönere und feinere, als sie ist. Verlangt aus des Königs Schatzkammer so viel Gold, wie ein Mann in einem Sacke auf seinem Rücken fortbringen kann, als Abfindungspreis, und laßt die Tochter in Ruhe, bis sie mit all ihrer Habe verschimmelt, so daß niemand mehr kommt, sie anzusehen, geschweige denn zu freien.« Der Rat war nach des Königssohnes Geschmack, deshalb sagte er am andern Morgen, als er aus des alten Königs Munde vernommen, was ihm der Ohrenmann schon gestern berichtet hatte: »So mag es denn meinetwegen mit der Freite sein Bewenden haben. Ich will mich mit Euch vertragen, wenn Ihr mir [239] aus Eurer Schatzkammer so viel Gold zum Ersatz für meine weite Reise versprecht, als ein Mann in einem Sacke auf dem Rücken forttragen kann.« Der König versprach das ohne Weigern und war noch froh, daß er so wohlfeilen Kaufes davonkam, denn hätte der Jüngling das halbe Königreich zur Abfindung gefordert, er hätte es hingeben müssen, so aber kam er mit einem Sackvoll Geld los. Der König dachte in seinem Sinn: ›Ich hielt den jungen Mann für gescheiter, als er ist, aber er kennt das Gewicht des Goldes nicht, von dem doch der allerstärkste Mann nicht viel tragen kann.‹ So trennten sich die Männer, beide mit dem abgeschlossenen Handel sehr zufrieden.

Im Gasthofe sagte der Baumlupfer zum Königssohn: »Jetzt schickt Diener in die Stadt und laßt sämtliches Segeltuch, das in den Buden zu finden ist, aufkaufen, dann bringt fünfzig Schneidergesellen zusammen und laßt aus dem Segeltuch einen sechsdoppelten Sack nähen, so lang und breit, als der Stoff reichen will. Mit diesem Sacke will ich aus der Schatzkammer das Lösegeld holen, das Euch zum Ersatz für die Jungfrau dienen soll.« Der Königssohn tat also und versprach den Bockreitern reichen Lohn, wenn sie die Nacht durch den Sack bis zum Morgen fertig nähen würden. Wenn nun, wie man sagt, schon der Meisterin Bratenschüssel auf dem Ofenherd die Nadel des Schneiders beflügelt, so kann man leicht denken, um wieviel mehr der vom Königssohn verheißene Lohn dies tat. Die Schneider stichelten die ganze Nacht am Segeltuch, und jeder war nur darauf bedacht, seine Augen vor dem Nebenmann zu hüten, damit ihm dessen Nadel in ihrem Schwung nicht ins Auge fahre. Etwas vor Mittmorgen (9 Uhr) hatten die Männer den Sack fertig, und fast alle Nähte waren doppelt genäht. Die Schneider erhielten den Arbeitslohn und noch so viel Trinkgeld obendrein, daß sie dafür, obwohl die Arbeit nur eine Nacht gedauert hatte, drei Tage lang in der Herberge Gelage halten konnten. Der Baumlupfer nahm dann seinen Sack auf den Rücken und ging damit nach des Königs Schatzkammer zum Schatzmeister, um die Füllung des leeren Sackes zu verlangen. Als der Schatzmeister den grundlos tiefen Sack erblickte, sagte er spottend: »Du hast wohl den rechten [240] Weg verfehlt, Brüderchen, du wolltest sicher in irgendeine Kaffscheune, für das Geld hätte es eines solchen Sackes wahrhaftig nicht bedurft.« Der Sackmann erwiderte: »Nun, der Sack wird über den freibleibenden Rand nicht trauern, auch kann ich nicht mehr hineintun, als ich imstande bin fortzutragen.« Als die Türen zur Schatzkammer aufgeschlossen waren und die Goldtonnen alle zum Vorschein kamen, sagte der Schatzmeister: »Was meinst du, getraust du dir wohl, daraus den Sack zu füllen und dann vom Platze zu bringen?« Der Sackmann erwiderte: »Du wirst ja sehen; wer kann eine Sache als sicher rühmen, ehe er sie versucht hat? Mein Herr hatte, als er herkam, die feste Hoffnung, mit einer jungen Frau zurückzufahren, bekommt aber nun keinen besseren Lohn als ein Säckchen voll Geld. Nun, Geld ist oft besser als ein böses Weib.« Der Schatzmeister sagte höhnisch: »Schade, daß du keine Schaufel mitgebracht hast, das würde die Arbeit abkürzen, denn mit der Hand den Sack zu füllen ist doch langweilig, zumal wenn der Sack so groß ist.« Der Baumlupfer entgegnete: »Mein seliger Vater sagte oft im Scherz: ›Wenn ein Mann weder Kanne noch Schöpfkelle hat, so muß er entweder von dem Rande des Kübels oder aus dem Spundloch schlürfen.‹« Mit diesen Worten hob er die erste Goldtonne auf wie ein Körbchen voll Daunen, bat, die Öffnung des Sackes auseinanderzuhalten, und schüttete dann das Geld hinein, daß es klirrte. Jetzt wurde dem Schatzmeister schon bange, als es aber der zweiten und dritten Tonne nicht besser erging, da wurde das Männlein bleich wie eine getünchte Wand. Nach einer Weile waren alle Goldtonnen geleert, der Sack war aber noch nicht einmal zur Hälfte voll. Der Träger fragte: »Hat Euer König denn keinen größeren Schatz?« – »Gold in Barren findet sich noch hinten in Kasten, es ist aber noch nicht geprägt.« – »Nur her damit!« sagte der Baumlupfer und leerte die Kasten ebenso rein aus wie vorher die Tonnen. Als dann alle Ecken und Winkel leer waren, nahm er den Sack auf den Rücken und schritt zurück nach dem Gasthof.

Das Zuschließen machte dem Schatzmeister diesmal keine Sorge, darum lief er, wie von einer Bremse gestochen, dem Könige das [241] Unglück zu melden. Der alte König erschrak nicht minder, als er den Vorfall hörte, ließ die Tochter holen und rief: »Sieh nun, was für ein Unglück deine halsstarrige Widersetzlichkeit angerichtet hat. Aller Goldvorrat ist dahin, der Freier hat mich kapp und kahl gemacht wie eine Kirchenmaus. Was für ein König bin ich jetzt? Ein Herrscher ohne Geld hat weder Hand noch Fuß, seinen Feinden die Spitze zu bieten. Wenn die Soldaten hören, daß ich nichts mehr habe, um ihnen ihre Löhnung zu zahlen, so laufen sie auseinander.« Da sagte die Tochter: »So kann die Sache nicht bleiben; wir müssen mit List oder Gewalt ihnen den Schatz wieder zu entreißen suchen.« Aber noch ehe sie Zeit hatten, irgend eine List zu versuchen, kam schon Botschaft, daß der Königssohn die Stadt verlassen habe. »Jetzt müssen wir Gewalt brauchen«, sagte die Tochter. »Laßt augenblicklich das ganze Heer zusammenrufen und dem Freier nachjagen, der ja doch mit seiner schweren Last nicht schnell vorwärtskommen kann.« Der Befehl wurde sofort vollzogen. Am andern Tage war das Heer beisammen; man brach auf, um nachzusetzen, voran die Reiterei, darauf das Fußvolk und zuletzt der König mit seiner Tochter in einer Kutsche. Ein Drittel des Goldes aus dem Schatz, der dem feindlichen Freier wieder abgenommen werden sollte, wurde den Kriegsleuten zum Geschenke versprochen, damit sie ihn desto hitziger verfolgen möchten.

Der Königssohn war mit seinem Schatze schon eine gute Strecke vorwärtsgekommen, denn der sechsfache Geldsack hemmte des Trägers Schritte nirgends. Der Schatzträger war soeben über einen hohen Berg gekommen und hatte sich am Fuße desselben unter einem Busche niedergelassen, um auszuruhen, als der Mann mit den langen Ohren ihnen alles erzählte, was hinter ihnen in der Königsstadt angezettelt und vorgenommen wurde. Der Augenmann hatte vom Kamm des Berges aus das nachsetzende Heer deutlich erblickt – darum schlug dem Königssohne das Herz doch etwas bänglich. Aber der Windbläser sagte: »Wir müssen uns etwas weiter vom Berge entfernen, damit, wenn die Truppen herankommen, der Windstoß meines Mundes sie um so sicherer treffen kann.« So gingen die Männer weiter, bis sie [242] einen passenden Ort gefunden hatten. Als nun der Augenmann meldete, daß die voranziehende Reiterschar den Kamm des Berges schon erreicht habe, begann der Windmann zu blasen. Und hast du nicht gesehen! Als hätte ein Wirbelwind leichten Staub und Schutt vom Berge in die Höhe gefegt, so flogen Mann und Roß bis in die Wolken und fielen dann nieder, so daß kein Glied bei dem andern blieb. Ganz ebenso flog dann auch das Fußvolk in die Luft, so daß zuletzt nichts weiter übrigblieb als die Kutsche, in welcher der alte König mit seiner schnellfüßigen Tochter saß. »Soll ich sie auch auffliegen lassen?« fragte der Windmann. Aber der Königssohn verbot es ihm und sagte: »Versuchen wir es noch einmal in Güte.« Darauf fuhr er in seiner Kutsche auf den Berg zurück dem König entgegen, grüßte höflich und sagte: »Jetzt seid Ihr auf einmal zum armen Manne geworden, Ihr habt weder Schatz noch Heer, was für ein König könnt Ihr sein? Versprecht mir Eure Tochter zur Frau, so hat alle Trübsal ein Ende.« Weder der alte König noch die halsstarrige, schnellfüßige Tochter konnten sich jetzt länger widersetzen, sondern gaben ihre Zustimmung. Darauf sagte der Königssohn zu seinem Schwiegervater: »Seid ohne Sorge, den Schatz lasse ich sofort zurücktragen, und unter einer weisen Regierung wird die Bevölkerung rasch zunehmen, so daß die Plätze derer, welche heute in die Luft flogen, wieder ausgefüllt werden. Bis dahin aber werden meine starken Diener das Reich beschützen, von denen der eine mit seinem Auge die kleinste Mücke in der Wolke gewahr wird, der andere mit seinem Ohr das Niesen einer Maus hundert Klafter tief in der Erde hört, der dritte mit seiner Stärke alles Gold und Silber einer Schatzkammer auf dem Rücken davonträgt und der vierte mit seinem Munde jedes Heer in die Luft blasen kann.«

Da zogen sie alle in die Königsstadt zurück, wo ein prachtvolles Hochzeitsfest begangen wurde, das vier Wochen dauerte; der Schwiegersohn aber blieb im Hause des alten Königs und wurde nach dessen Tode Beherrscher des Reichs.

Fußnoten

1 Wörtlich: Durch sieben Feuerstellen gehen.


2 Ein Stof ist etwa gleich einem Liter.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 228-243.
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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

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