Anhang: Livische Märchen

[279] 84. Das Werwolfsfell

Es war einmal ein König, der hatte zwei Bräute. Die eine heiratete er, die andere ließ er sitzen. Aber dieses andere Mädchen, dem er einen solchen Kummer bereitet hatte, schwor ihm lebenslängliche Rache.

Der König hielt Hochzeit, und nach einem Jahr wurde ihm ein schöner Knabe geboren. Da bekam der König aber die Nachricht, daß er in den Krieg ziehen müsse. Seine kranke Gemahlin mit dem kleinen Sohne blieb zu Hause. Und zu jener Zeit, wo der König im Kriege war, suchte seine andere, verlassene Braut nach einer Gelegenheit zur Rache. Eine alte Zigeunerin lehrte sie neunmal unter den Wurzeln einer Kiefer durchzukriechen, um sich in einen Werwolf zu verwandeln. Und jenes Mädchen ging hin, kroch neunmal unter den Wurzeln einer Kiefer durch und wurde zu einem Werwolf. Das auf solche Weise erlangte Werwolfsfell wollte sie der jungen Königin überwerfen, sie fand aber auf keine Weise Gelegenheit, bis zur Königin durchzudringen. Da ging sie zu einem Diener des Königs und bat um Arbeit. Der Diener meldete dies der Königin, und die Königin ließ sie anstellen, damit sie den Hof in Ordnung halte. Der Diener ließ das Mädchen sofort ihren Dienst antreten, und nun ging sie herum und lauerte der Königin auf.

Eines schönen Abends säugte die Königin am offenen Fenster ihr Kind – da warf das Dienstmädchen ihr durchs Fenster das Werwolfsfell über. Sogleich wurde die Königin zu einem Werwolf, legte das Kind nieder und schlich in den Wald. Jenes Mädchen stieg nun selbst zum Fenster hinein, nahm das Kind in seine Arme und begann es zu säugen. Sie hatte aber zum Säugen gar keine Milch, und das Kind schrie und weinte gar sehr. Doch ließ das Mädchen keinen Menschen zu sich heran.

Als nun der König nach Hause kam, da klagte man ihm, die Königin lasse niemand in ihre Nähe, wo das Kind doch so sehr schreie. Der König begriff nicht, was seinem guten Weibe so Böses zugestoßen [279] sei; er ging selbst zu seiner Frau und begehrte Einlaß. Jemand tat die Tür auf und ließ den König ein. Die Frau lag platt auf dem Bett, und das Kind schrie ganz schrecklich. Die Frau hatte die Augen geschlossen, und als der König fragte, was ihr fehle, da winkte sie nur mit der Hand und sagte, sie sei sehr krank. Augenblicklich rief der König den Diener und sagte ihm, er solle rasch einen Arzt holen, und war noch über ihn böse, weil er nicht von selbst zur kranken Königin einen Arzt gerufen hatte. Der Diener verteidigte sich, er sei nicht schuld, denn die Königin selber habe keinen Menschen in ihre Nähe gelassen. Da fragte der König seine Frau, ob sie einen Arzt wolle, und die Frau bat ihn und sagte, sie wolle keinen; und sie sprach zum König kein Wort mehr, sondern winkte nur mit der Hand, daß man sie verlassen solle. Der König konnte nicht herausbekommen, was seiner Frau fehle; doch ließ er den Arzt holen, und dieser erklärte, die Königin müsse allein sein und niemand dürfe sie stören.

Da saß nun an einem sehr, sehr schönen Abend der alte Diener des Königs draußen auf einem Stein und dachte an seinen kummervollen Herrn. Die Mitternacht kam heran. Da sah der Diener mit seinen eigenen Augen einen Werwolf herankommen. Der Diener saß so regungslos, wie er nur konnte, und wollte sehen, was für ein Tier das eigentlich sei. Der Werwolf ging geradewegs unter das Fenster der Königin und sprach diese Worte: »Wenn man nur das Kind herausbringen und auf dem Hof niederlegen wollte, dann würde ich es säugen.« Der alte Diener horchte und schaute und begriff nun klar, daß die jetzige Königin nicht die rechte sei, sondern daß hier ein schreckliches, großes Verbrechen geschehen sein müsse. Und der Diener erzählte am Morgen dem Könige alles, was er in der Nacht gesehen und gehört hatte.

In der nächsten Nacht ging der König auch selbst lauschen. Die beiden legten das Kind auf den Erdboden und setzten sich auf den Stein, um den Werwolf zu erwarten. Dieser kam, nahm das Kind und ging damit zur Ecke der königlichen Vorratskammer. Da war ein sehr großer Stein. Dort zog der Werwolf sein Fell aus, legte es auf den Stein, setzte sich darauf und säugte das Kind. Nun sah auch der König deutlich, daß es seine eigene Frau [280] war, und wollte sogleich zu ihr eilen; aber der Diener hielt ihn fest und ließ ihn nicht hin. Als die Frau das Kind gesäugt hatte, brachte sie es zurück, legte es hin und sprach diese Worte: »Noch zwei Abende und dann niemals mehr!« Und sie schlich fort. Der König nahm sein Kind auf und brachte es in die Stube; dann ließ er durch seine Diener die Königin im Bett festnehmen und ins Gefängnis werfen. Mit dem Diener aber hielt er Rat, wie sie den Werwolf in ihre Hände bekommen sollten. Und sie verabredeten sich, das Kind am Abend wieder hinauszutragen und dann in der Nacht den Werwolf dort festzunehmen. Sie brachten das Kind auch hinaus und warteten auf das Kommen des Werwolfs. Der Werwolf kam, nahm das Kind auf und ging wieder zum selben Stein, um es zu säugen. Als die Frau das Werwolfsfell ausgezogen hatte und das Kind zu säugen begann, da lief der König hinzu und wollte sie festhalten; aber sowie sie das merkte, warf sie das Kind hin und lief davon und sprach nur noch diese Worte: »Noch morgen nacht und dann niemals mehr!«

Der König konnte kein Mittel erdenken, um den Werwolf zu fangen. Da gab ihm der alte Diener einen guten Rat: man solle auf dem Stein ein Feuer anlegen und den Stein glühend machen; wenn da der Wolf sein Fell ausziehe und auf den Stein lege, so werde das Fell am Stein haften bleiben, und ohne das Fell werde der Wolf nicht fortlaufen. Das taten sie auch: sie heizten den Stein glühend und warteten, bis der Werwolf kam. Dieser nahm sogleich das Kind und ging, es zu säugen; er zog sein Fell aus, legte es auf den Stein und setzte sich darauf. Der König aber und sein Diener warteten noch, damit die Frau länger auf dem Stein sitze – dann bleibt das Fell fester am Stein haften. Als die Frau das Kind gesäugt hatte, küßte sie es noch dreimal, legte es nieder und wollte das Fell nehmen, sie konnte es aber nicht, denn das Fell war am Stein haften geblieben. Nun stürmte der König herbei und hielt sie fest und überzeugte sich jetzt, daß es seine rechte Frau war, welche sechs Monate lang das Werwolfsfell getragen hatte.

Da führte der König seine Frau ins Zimmer und ließ jene andere, welche im Gefängnis saß, an einen Pferdeschweif binden, damit [281] das Pferd sie zu Tode trete. Und der König selbst hielt mit seiner ersten Frau zum zweitenmal Hochzeit; und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 279-282.
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