[282] 85. Zwei Leichen und ein schwanzloses Pferd

Es waren einmal zwei Bauernwirte: der eine war reich, der andere war arm. Der Arme ging zum Reichen und bat ihn um ein Pferd, damit er Holz führen könne; er bekam das Pferd auch, aber ohne den Schlitten. Der Arme nahm es nun, ging in den Wald und band das Holzfuder mit einem Strick an den Schwanz des Pferdes; aber auf der Heimfahrt riß der Pferdeschwanz ab. Der Arme brachte das Pferd wieder zum Reichen zurück und bedankte sich aufs schönste, aber das Pferd hatte keinen Schwanz mehr. – Der Reiche verklagte den Armen vor dem Gericht.

Zum Gericht ging der Reiche mit seiner Frau und seinem Sohn, der Arme wanderte allein hinter ihm drein. Wegen der Kälte betraten sie alle eine Schenke. Der Reiche bestellte sich Bier und Schnaps, um warm zu werden, die Frau mit dem Sohn machte es sich am Ofen bequem, um sich ebenfalls zu wärmen, und der Arme kletterte auf den Ofen. Der Arme schloß die Augen, um nicht zu sehen, wie der Reiche trank; er schlummerte aber ein, stürzte vom Ofen genau auf den Sohn des Reichen herab und schlug ihn zu Tode. Auf diese Weise war er schon doppelt schuldig. Auf dem Wege zum Gericht mußten sie noch über einen Fluß gehen. Der Arme ging über die Brücke, gerade als ein alter Mann unten auf dem Eise durchfuhr. Der Arme tat einen Fehltritt, stürzte von der Brücke gerade dem alten Mann auf den Kopf und schlug ihn ebenfalls zu Tode. Auf diese Art war er schon dreifach schuldig und dachte, daß man ihn jetzt natürlich hängen werde. Da fand er am Wege einen Stein, ungefähr ebenso groß wie ein Haufen von dreihundert Talern. Der Arme band den Stein in sein Tuch und sprach zu sich selbst: »Wenn ich einmal zum Tode verurteilt bin, so mag auch mein Richter krepieren: ich werfe ihm mit dem Steine den Schädel ein.«

[282] So kamen sie nun alle zum Galgen ins Gericht. Der arme Mann wartete auf das Urteil und hob seine Hand mit dem Stein in die Höhe, um ihn, wenn er zum Tode verurteilt würde, augenblicklich dem Richter an den Kopf zu werfen. Der Richter aber dachte, daß der Mann ihm dreihundert Taler zeige, und fällte das Urteil folgendermaßen: der Reiche solle sein Pferd dem Armen überlassen, bis dem Pferde wieder ein Schwanz gewachsen sei; auch seine Frau solle er dem Armen geben, bis sie von diesem ein neues Kind geboren habe – dann solle er Pferd, Frau und Kind zurückerhalten; was drittens den alten Mann anlange, so wäre der sowieso bald von selbst gestorben, deshalb könne der Richter darüber kein Urteil fällen.

Damit war das Gericht zu Ende, und alle gingen nach Hause. Am nächsten Morgen eilte der Arme sofort zu dem Reichen und verlangte das Pferd und die Frau, um sich unverzüglich an die vorgeschriebene Arbeit machen zu können. Doch der Reiche bat ihn, sich nicht zu bemühen – er selber wolle schon die Sache mit der Frau in Ordnung bringen und dem Pferde einen Schwanz wachsen lassen. Der Arme war damit nicht einverstanden. Nun, da gab ihm der Reiche dreihundert Taler Abschlagsgeld, und der Arme ging fröhlich nach Hause.

Hinterdrein schickte der Richter seinen Diener nach den dreihundert Talern, der Arme aber klagte, woher er dreihundert Taler nehmen solle. Der Diener erinnerte ihn daran, daß er sie ja im Gericht gezeigt habe. Nun erklärte der Arme: »Ich habe nur einen Stein gezeigt: wenn der Richter nicht zu meinen Gunsten entschieden hätte, so hätte ich ihm mit dem Stein den Schädel eingeworfen. Diesen Stein kann ich ihm freilich mit Vergnügen abtreten.«

Als der Richter das hörte, da war er selber noch froh darüber, daß er es unbewußt verstanden hatte, so zu urteilen, daß er keinen Stein an den Kopf bekommen hatte, und sprach: »Gott sei Dank, daß die Sache noch so abgelaufen ist!«

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 282-283.
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