[290] 90. Die Geldmühle

Es war einmal ein alter Mann, der hatte eine Bohne. Er wollte die Bohne verspeisen, die Bohne aber bat ihn, er solle sie nicht essen – lieber solle er sie in die Erde pflanzen. Also pflanzte der Mann sie in einen Topf und stellte ihn auf das Fenster seiner Hütte. Eines Tages sah er [290] nach, wie hoch die Bohne schon gewachsen sei – da reichte sie bis zur Zimmerdecke; er sah am folgenden Tage nach – da reichte sie bis zum Dach; und am dritten Tage reichte sie bis zum Himmel.

Nun kletterte der Mann an der Bohnenranke in den Himmel und sah, wie die Engel Geld mahlten. Er bat, man solle die Geldmühle ihm geben, und er bekam sie auch – nur sagten ihm die Engel, er dürfe die Mühle bloß einmal täglich umdrehen, dann werde er Geld bekommen, wenn er sie öfter drehe, so bekomme er nichts als Staub. Nun, der alte Mann drehte sie auch nur einmal täglich und erhielt auf solche Weise viel Geld.

Die anderen merkten, daß der alte Mann viel Geld hatte, und wurden auf ihn neidisch; und die Mühle wurde dem alten Mann gestohlen. Er hatte aber einen Hahn, der sang, daß die Mühle gestohlen sei und daß ein reicher Bauer das getan habe. Jener Bauer erfuhr, daß irgendwo ein Gut zu verkaufen sei; er wollte es kaufen und brauchte dazu viel Geld, so mahlte er also täglich viele Mal und schüttete alles in den Keller; schließlich dachte er, daß der Keller schon voller Geld sei, als er aber die Tür auftat, da war dort nichts als Staub.

Nun flog der Hahn auf das Dach des Kellers und krähte: »Kleine Herren, Bettelherren, gebt des armen Mannes Geldmühle heraus!« Der Bauer wurde vor Scham sehr böse und sperrte den Hahn in den Kuhstall ein. In der Nacht öffnete der Hahn das Tor, der Wolf sprang in den Stall und fraß alle Kühe auf. Am Morgen sang der Hahn wieder sein altes Lied, der Bauer solle des armen Mannes Geldmühle herausgeben.

Nun sperrte der Bauer den Hahn in den Pferdestall ein. Der Hahn aber öffnete in der Nacht wieder das Tor, der Wolf sprang hinein und zerriß alle Pferde. Und am Morgen sang der Hahn wieder dasselbe alte Lied: »Kleine Herren, Bettelherren, gebt des armen Mannes Geldmühle heraus!«

Da warf der Bauer ihn in den Brunnen, aber der Hahn trank den Brunnen leer und sang immer wieder sein [291] altes Lied. Der Bauer steckte den Hahn in den Ofen, damit er verbrenne, aber der Hahn löschte mit dem Wasser das Feuer und sang immer wieder sein Lied: »Kleine Herren, Bettelherren, gebt des armen Mannes Geldmühle heraus!«

Da nahm der Bauer den Hahn, tötete ihn und aß ihn auf. Doch der Hahn begann sogar in des Bauern Bauch sein Lied zu singen, kam dann aus dem Bauche noch wieder heraus und sang immer: »Kleine Herren, Bettelherren, gebt des armen Mannes Geldmühle heraus!«

Da ging der Bauer hin und gab dem armen Mann sowohl seine Mühle als auch seinen Hahn zurück. Und so mahlt der alte Mann Geld noch bis auf den heutigen Tag.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 290-293.
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