[289] 89. Der geizige König

Es war einmal ein König. Das war solch ein Geizhals – keinem Bettler gab er jemals etwas, sondern sagte nur immer, die Bettler sollten arbeiten gehn und sich Geld verdienen.

Neben seinem Schloß befand sich ein großer Park, und dahin verirrte sich einmal ein großer Hirsch. Der König wollte den Hirsch erlegen und begann auf ihn zu schießen, traf ihn aber nicht, [289] und der Hirsch flüchtete ins Meer. Der König zog sich nackt aus und fing an, den Hirsch im Wasser zu verfolgen. Die Kleider des Königs blieben am Ufer liegen, es kam ein Dieb hinzu und trug sie fort – und auf diese Weise blieb der König nackt. Den Hirsch aber hatte er gefangen; so nahm er nun dessen Fell, hüllte sich ein und ging nach seinem Schloß zurück; doch die Wachen ließen ihn nicht mehr hinein – sie glaubten nicht, daß er ihr König sei. Bald begann der König Hunger zu spüren; es half nichts anderes – er mußte dienen gehen. Er verdingte sich also bei einem Bauern als Knecht. Dort mußte er aber sehr früh aufstehn und zur Arbeit gehn. Daran war er nicht gewöhnt und schlief länger. Nun, der Bauer gab ihm auch keine Arbeit mehr, sondern jagte ihn fort. Darauf bot der König sich einem anderen Bauern als Pferdehirt an; er dachte, dies sei eine leichte Arbeit, blieb aber wieder schlafen, die Pferde liefen in den Weizen, und der Bauer jagte ihn wieder fort. Dann wurde er Schweinehirt, aber auch die Schweine gingen bald in die Kartoffeln und bald in die Erbsen, und der Bauer jagte den Hirten fort.

Schließlich fand der König nirgends einen Dienst mehr. Er wanderte nun einsam seinen Weg; da kam ihm ein blinder Bettler entgegen und klagte, er habe niemand, der ihn zum Schlosse des Königs leite, wo eine große Bettlerbewirtung zu erwarten stehe. Nun ging der König als Wegweiser des Bettlers hin und wurde auch mit dem Bettler zusammen ins Schloß eingelassen. Dort war ein König, der saß mit den Bettlern an einem Tisch und aß mit ihnen zusammen. Der fragte den geizigen König: »Hast du nun gelernt, König zu sein?« Und er selber stand auf und ging hinaus und ließ ihn an seiner Stelle wieder als König zurück.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 289-290.
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