[287] 88. Das kluge Weib

Es war einmal ein reicher Mann und ein armer Mann. Der Reiche hatte ein großes Stück Land und der Arme ein kleines, dafür aber viele Kinder. Nun grub der Arme um sein eigenes Land einen tiefen Graben, damit seine Kinder nicht aufs Land des Reichen gehen sollten. Einmal ließ der Reiche seine Kuh weiden. Die Kuh ging in den Graben, um Wasser zu trinken, und brach sich ein Bein. Der Reiche ging auf das Gericht klagen, aber das Gericht konnte in der Sache kein Urteil fällen. Da sagte der Richter, er wolle drei Rätsel aufgeben; wer sie in drei Tagen zu raten vermöge, der habe den Streit gewonnen. Und diese drei Fragen waren: Wer ist der Reichste? Wer kann am schnellsten laufen? Und was ist das Süßeste?

Nun kam der arme Mann in Sorgen nach Hause. Er hatte aber eine erwachsene Tochter, und die fragte ihn: »Was für eine Sorge hast du?« Der Vater erzählte die Sache, und die Tochter antwortete: »Vater, sei nur ganz ruhig.« Und die Tochter lehrte ihn, was er antworten solle.

Nach drei Tagen gingen der Arme und der Reiche zum Richter. Dieser fragte sogleich: »Nun, wie steht es mit den Rätseln?« Der Reiche beeilte sich, sofort mit Eifer zu antworten: »Der Reichste, das seid Ihr selbst, Herr Richter; am schnellsten laufen kann der Hengst, den ich zu Hause habe; und ich habe so viel Honig, daß die ganze Kleete1 davon voll ist – aber Süßeres als Honig gibt es nichts.« Darauf antwortete der Arme: »Der Reichste ist Gott; am schnellsten laufen können die menschlichen Gedanken; und [287] das Süßeste ist der Schlaf.« Nun sprach der Richter: »Du hast recht!« Doch fragte er den Armen, wer ihn diese Weisheit gelehrt habe. Dieser antwortete: »Meine Tochter.« Da sprach der Richter: »Nun, wenn deine Tochter so klug ist, so soll sie morgen zu mir kommen, nicht bekleidet und nicht nackt, nicht zu Pferd und nicht zu Fuß, nicht auf dem Wege und nicht am Rande des Weges; ihr Pferd binde sie zwischen dem Winter und dem Sommer an, und ›Guten Tag‹ sage sie weder draußen noch in der Stube.«

Nun war der arme Mann noch mehr in Sorgen. Er ging nach Hause und sagte zur Tochter, jetzt sei es mit ihm aus. Die Tochter fragte, was ihm fehle, und der Vater erzählte, auf welche Weise die Tochter zum Richter kommen sollte. Die Tochter lachte nur und sagte, der Vater möge sich keine Sorgen machen.

Am anderen Tage wickelte die Tochter sich in ein Netz – und war also weder bekleidet noch nackt; dann nahm sie einen Ziegenbock und bestieg ihn, aber ihre Füße berührten den Boden – also war sie weder reitend noch zu Fuß; der Bock ging, indem er den einen Fuß auf den Wegrand, den anderen auf den Weg setzte – so war es also weder das eine noch das andere; den Bock band sie auf dem Hofe des Richters zwischen einem Schlitten und einem Wagen an – so befand er sich also zwischen Winter und Sommer; und den Richter grüßte sie, während sie mit dem einen Fuß diesseits, mit dem anderen jenseits der Schwelle stand. Und so sah der Richter, wie klug das Frauenzimmer war. Er befahl, ihr schöne Kleider anzuziehn, damit ein Diener sie heirate. Aber als das Mädchen schöne Kleider angelegt hatte und der Herr es ansah, da gefiel es ihm selbst sehr gut, und er heiratete es selber.

Nach der Hochzeit ging der Herr von Hause fort und verbot seiner jungen Frau, jemandem Recht zu sprechen, und er drohte, sie fortzujagen, wenn sie das Verbot nicht hielte. Als der Herr fort war, kamen zwei Männer aufs Gericht. Der eine hatte vom anderen ein Wagenrad geliehen und wollte irgendwohin fahren, in der Nacht aber warf die Stute ein Füllen, und am Morgen konnte er nirgends hinfahren. Er brachte das Rad zurück, doch der andere verlangte Bezahlung: »Wenn er das Rad nicht gegeben [288] hätte, so hätte auch die Stute kein Füllen gehabt.« – Und die Frau des Richters sprach den beiden das Urteil.

Nun kam der Richter nach Hause und sagte, die Frau solle sich jetzt packen, weil sie dem Verbot nicht gehorcht habe; aber einen Gegenstand dürfe sie noch mitnehmen. Da bat das Weib: »Könnten wir nicht ebenso, wie zur Hochzeit, alle Verwandten zusammenrufen, ihnen Speisen und Getränke vorsetzen und danach voneinander scheiden?« Nun, der Herr ging auch darauf ein und rief die Verwandten zusammen.

Alle kamen, aßen und tranken, die Frau aber bewirtete ihren Mann fortwährend mit Schnaps, bis der Herr betrunken war. Da nahm die Frau einen kleinen Karren, auf dem im Garten Sand geführt wurde, legte den Richter hinein und karrte ihn ins Haus ihres eigenen Vaters hinter den Ofen, selbst aber legte sie sich nebenbei schlafen.

In der Nacht fragte der Herr, an welchem Ort er sich befinde. Die Frau antwortete: »Schlaf nur, du wirst es schon am Morgen sehn!« Der Herr fragte zum zweitenmal, an welchem Ort er sich befinde. Da sagte die Frau: »Du befindest dich hinter dem Ofen meines Vaters.« Der Herr fragte: »Wie bin ich denn hierher geraten?« Die Frau antwortete: »Natürlich habe ich dich hergebracht. Du erlaubtest mir ja, einen Gegenstand mitzunehmen: ich fand, daß der wertvollste Gegenstand du bist, und nahm dich mit.«

Der Herr stand auf, nahm seine Frau unter den Arm und ging auf sein Gut zurück und freute sich, daß er eine so kluge Frau hatte.

Fußnoten

1 Vorratshaus, Speicher.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 287-289.
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