Kalevipoeg

[262] Der Sagenkranz, der sich um den »Sohn des Kalev« windet, ist das einzige, aber bedeutende epische Erzeugnis der estnischen Volkspoesie. Es sind zwar nur Einzelgedichte, die durch die Gestalt des Helden lose zusammengehalten werden, kein Epos also von einem Guß, aber sie sind reich an spannenden Situationen, an feinen lyrischen Stimmungsbildern, reich vor allem aber an märchenhaften Elementen, an heldenhaften Taten und Kämpfen.

Es ist bemerkenswert, daß hoch oben im Norden bei den Esten die Kraft zu epischer Gestaltung so stark gewesen ist, daß eifrige Sammler, die ins Volk gingen, eine riesige Menge von Gedichten, die an einen gemeinsamen Helden anknüpfen, zusammentragen [262] konnten. Es sind Dr. Fählmann und vor allem F.R. Kreutzwald gewesen, die mit Unterstützung der Gelehrten Estnischen Gesellschaft in Dorpat die Kalevipoegsagen in den 30er und 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts sammelten und zu 20 Gesängen von rund 18000 Versen verbanden.

Der erste Teil dieser Sammlung erschien unter der Redaktion von Kreutzwald – Fählmann war inzwischen gestorben – in deutscher Übersetzung des Pastors Carl Reinthal im Jahre 1857 in Dorpat. Der Druck des Ganzen zog sich bis zum Jahre 1861 hin, wo die letzte Lieferung erschien. – Die Bruchstücke, die wir bieten, sind diesem inzwischen selten gewordenen Werk entnommen.

Der Leser möge nicht glauben, in den Kalevipoegsagen reinste, urquellmäßige Volksdichtung vor sich zu haben. Die sieht anders aus, gröber, unklarer, ungeordneter, durch Wiederholung oft auch langweiliger. Sammler und Übersetzer jener Zeit hielten sich aber für berechtigt, zu trennen und zu verbinden, umzustellen und zu ändern, um dem Ganzen eine lesbare Form zu geben. Wir danken es ihnen, denn ohne diese Arbeit, deren erste Proben das lesende Publikum erwärmten, wäre viel wertvoller Stoff verlorengegangen oder doch unbekannt geblieben. Immerhin darf gesagt werden: ein treues Spiegelbild des estnischen Volkshelden, estnischer Bräuche und Sitten, estnischer Träume und phantasievoller Erfindung geben diese Verse doch.

In dem ersten Gesang, wie Kreutzwald sagt, wird die »Präsentation« gegeben. Wir hören von Kalev, dem Vater des Helden, der in Estland herrschte, und von seiner Mutter Linda, die in der Wiek, dem westlichsten Kreise des Landes, bei ihrer verwitweten Mutter lebte. Sie hat, mannbar geworden, viele Freier, darunter den Mond, die Sonne, den Sternenknaben, den Wasserfreier, den Wind auf seinem Sturmhengst und des Kunglakönigs Erben. Aber Linda weist sie alle ab, nur der riesenkräftige Kalev findet Gnade vor ihren Augen:


»Dieser ist nach meinem Sinne,

diesen nehm' ich gern zum Manne!«


[263] Linda schenkt ihrem Gatten drei Söhne. Kalevipoeg ist der jüngste, er kommt erst nach dem Tode des Vaters zur Welt. Bevor dieser stirbt, bestimmt er, daß die drei Brüder um die Herrschaft losen sollen, wenn der Jüngste erwachsen sein werde.

Kalevipoeg entwickelt sich – ganz wie die Helden im Märchen – fabelhaft rasch zum riesenstarken Jüngling. Es heißt von ihm:


Vater Kalevs edler Sprößling

ward ein flinker Hüterknabe,

dann ein tüchtger Pflügerbube,

schoß wie eine junge Eiche

schlank und kräftig in die Höhe

und verhieß des Vaters Ausspruch

glänzend einstmals zu erfüllen.

Täglich übt er seine Kräfte,

täglich ward er größer, stärker.


Auf dem Hofplatz spielt er Kurni1,

Radspiel auf dem weiten Anger.

Wenn er seine Kurniklötze

aufgestellt am untern Rande

und vom obern Rand sein Knüttel

sausend durch den weiten Hofraum

traf die aufgestellten Klötze,

hei, wie flogen längs dem Anger

bis zur fernen Kälberkoppel

dann die aufgestörten Klötze

weit und breit hin auseinander!

In den Wäldern, an den Hügeln

und zerstreut auf weiter Fläche,

ja, im Meere fand man manche.


Seine Kurniklötze sind noch

heutzutage anzutreffen

[264] auf dem Spielplatz seiner Jugend,

die man Jungfernsteine nennt,

Klötze, die der Riesenknabe

selbst sich aus Granit gehauen.


Oftmals sah man auch den Knaben

auf dem Hofplatz seiner Mutter

sich aus hohen schlanken Birken,

die er aus der Erde rupfte,

als wenn's dünne Halme wären,

kleine nette Schlittchen machen

oder Katzenkörbchen flechten.

Es verflossen unter Spielen

rasch die Jahre seiner Kindheit

und der junge Kalevide

steuerte mit vollen Segeln,

die die Mutterliebe blähte,

in das Meer der reifern Jahre.

Vater Kalevs jüngster Sprößling

maß bald volle Manneslänge,

schritt vorbei den ältern Brüdern

und erreichte bald den Vater.

(2, 684–712, 728–744)


Nun kommt die Zeit, wo er kühne Taten verrichtet, böse Meergeister tötet, Auerochsen, Bären und Wölfe jagt. Während er eines Tages fort ist, wird Linda, seine Mutter, von einem finnischen Zauberer entführt, allein ihn trifft der Donnergott mit seinem Blitz, so daß er in tiefe Ohnmacht fällt. Linda ist vor seiner Gier gerettet, doch wird sie auf der Flucht in einen Felsblock verwandelt, der noch heute auf dem Iruberge zu sehen ist.

Kalevs Sohn kehrt mit seinen Brüdern von der Jagd zurück; sie finden die Mutter nicht, alles Rufen und Suchen ist vergeblich. Die Brüder legen sich ermattet zur Ruh, Kalevipoeg aber gibt die Hoffnung nicht auf, die teure Mutter wiederzufinden. Er geht zum Grabhügel des Vaters und fragt den Toten um Rat, wohin[265] er sich wenden solle. Des Vaters Stimme gibt ihm zur Antwort, er solle sich vom Winde den Weg zeigen lassen. Da wandert er fort und gelangt, dem Winde folgend, ans Meer.


Als er sich am steilen Ufer

scharfen Blicks noch umgesehen,

aber nirgend von der Teuren

eine Spur entdecken konnte,

warf der Jüngling von dem Glintrand2

sich hinunter in die Wogen,

die in ihrem breiten Bette

mächtig rauschend ihn empfingen.


Mit den Händen kräftig rudernd,

steuert er mit seinen Füßen,

läßt das Haar als Segel wehen

und beginnt, der Küste Finnlands

nördlich haltend zuzustreben;

denn im Norden hofft er sicher,

seine Mutter aufzufinden,

Birkhuhn aus dem Garn zu lösen,

Linda sicher zu befreien.


Von dem Himmelsdome blinkten

schon der alte Sternenwagen

und der schwedsche Bär hernieder

und der helle Stern des Nordpols,

fest an einen Punkt geheftet.

Alle wiesen ihm die Richtung

auf der nassen Bahn nach Finnland,

nach dem hohen Felsenufer.


O du starker Sohn des Kalev,

seiner Witwe Trost und Stütze!

[266] Nichts vermochte deinen Eifer,

nichts dein Streben zu ermüden

oder deine Kraft zu lähmen,

als dein liebend Herz dich antrieb,

deiner Mutter Spur zu suchen,

der Verlornen nachzuspüren.

Sterne kamen, Sterne gingen;

nur der glänzende Polarstern

und der alte Wagen hielten

unverändert Wacht am Himmel.


Endlich taucht aus krausen Wellen

hüpfend auf ein schwarzes Pünktchen,

das sich vor dem rüstgen Schwimmer

bald zu einer Insel ausdehnt,

und im Angesicht der Insel

rührt er rascher noch die Glieder.

(4, 39–70, 85–96, 125–130)


Kalevs Sohn ruht sich auf dem Eiland aus, ermüdet von der gewaltigen Anstrengung. Da hört er in der Nähe ein Mädchen singen. Das sang so kunstlos wie ein Vogel, so süß wie die Nachtigall. – Kalevipoeg horcht hin und:


Aus des Mägdleins Kehle drangen

in des Lauschers Ohr die Worte:

»Weit entfernt ist mein Geliebter,

hinterm Wasser mein Erkorner,

unerreichbar meinen Blicken.

Zwischen mir und meinem Trauten

türmen sich des Meeres Wogen,

liegen weitgestreckte Seen

und unzählge Heideflächen,

dehnen Äcker sich und Wiesen,

Triften sich und Angerplätze,

wälzen Ströme ihre Fluten

[267] und entspringen tausend Quellen.

Ach, wer nennt die Dinge alle,

die mich nicht zu ihm gelangen,

ihn zu mir nicht kommen lassen!

Nicht in Monden, nicht in Jahren

hör' ich seine traute Stimme,

seh' ich in sein treues Auge,

darf ich mich in seinen Armen

seiner Liebesglut erfreun.


Weit entfernt ist mein Geliebter,

hinterm Wasser mein Erkorner,

unerreichbar meinen Blicken.

Gegen mich und meinen Trauten

hat sich Meer und Land verschworen.

Bring ihm, Lüftchen, meine Grüße,

weh ihm zu, daß ich ihn liebe!

Ach, ihr Wolken, schützt sein Leben!

Meereswogen, Regenströme,

rauscht ihm Wonne zu und Freude!

Lehr ihn weise sein, o Himmel,

laß ihn ohne Sorge leben!

Seine Pflichten freudig üben!

Bring von mir ihm so viel Grüße,

als wie oft ich an ihn denke;

bring von mir ihm so viel Grüße

als ich Wünsche für ihn hege;

bring von mir ihm so viel Grüße,

als das Erlenwäldchen Blätter,

Kätzchen zählt das Birkenwäldchen,

Nadeln unsre Tannen wiegen;

so viel, so viel, so viel Grüße,

als du Wellen siehst im Meere,

Sternlein an dem Himmelsbogen!«

(4, 186–230)


[268] Endlich erblickt Kalevs Sohn die schöne Sängerin, eine zarte Jungfrau. Reiche Locken decken ringelnd den schönen Nacken und den weißen Busen. Kalevipoeg fühlt sich wie zum Wettkampf aufgefordert und beginnt seinerseits, ein Lied zu singen, das dem Mädchen schmeichelt.

Das Eilandsmädchen erblickt ihn und – flieht nicht seine Nähe. Schnell kommt es zum Gespräch; unsichtbare Fäden umstricken die jungen Herzen der beiden, absichtslos sinkt das Mädchen an die Brust des Jünglings ...

Da ertönt ein Schrei, ein Jammerruf wird laut; der schlafende Vater des Mädchens hört ihn, schüttelt den Traum ab, greift zu seiner Keule, tritt zur Hütte hinaus, eilt zu seiner Tochter und bleibt sprachlos vor dem riesigen Jüngling stehen. Der fragt ganz arglos nach dem finnischen Zauberer, der seine Mutter entfuhrt habe. Im Gespräch mit dem Vater nennt Kalevipoeg seine Herkunft; da erschrickt das Eilandmädchen, als er Kalev seinen Vater, Linda seine Mutter nennt, sie tritt fehl und stürzt vom Felsen in das Meer. Kalev springt ihr nach, will sie retten, aber es ist vergeblich, sie taucht nicht wieder auf. Da schwimmt er weiter, Finnlands Küste entgegen.

Er landet glücklich, sucht nach den Spuren seiner Mutter und gelangt in das Gehöft eines Zauberers, der ihm feindlich entgegentritt. Kalevipoeg tötet die Söldner des Zauberers, die dieser aus Flaumfedern erschafft, dann ihn selbst. Ermüdet sinkt er in Schlaf und erkennt aus Traumbildern, daß seine Mutter nicht mehr am Leben ist.

Erwacht und gestärkt, will er heimwärts eilen. Da fällt ihm ein, daß in Finnland ein berühmter Waffenschmied lebt, von dem er das beste Schwert der Welt erhalten könnte. Kalevipoeg läßt sich dorthin den Weg weisen und versucht nun eine Waffe nach der andern, die der Meister ihm anbietet.


Stumm ergriff der Sohn des Kalev

eins der längsten von den Schwertern,

wog es prüfend in der Rechten,

bog sodann die breite Klinge

[269] fast zu einem Reif zusammen,

der sich augenblicklich wieder

ohne Tadel gradestreckte,

ließ sie dann mit Blitzesschnelle

sausend überm Haupte wirbeln

und vollführte endlich jauchzend

einen Hieb aus Leibeskräften

auf den Felsblock in der Schmiede,

daß die Funken weithin sprühten.

Diesem mörderischen Hiebe

war die Waffe nicht gewachsen,

denn der Stahl zerbrach in Stücke,

und das Heft blieb nur allein

in der Faust des Riesenjünglings.


»Hol der Geier solche Fäuste!«

rief der Waffenmeister fluchend.

»Ei, wer wird denn Kinderspielzeug

unter Männerwaffen mischen!«

warf der Kalevsohn dem Meister

höhnisch lachend in die Zähne

und ergriff nun ohne Wahl

noch ein zweites Schwert vom Haufen

und danach auch noch ein drittes,

eh der Schmied es hindern konnte,

machte wirbelnd seine Schwenkung

jedesmal und ließ das Schwert

auf den Block dann niederschmettern,

daß es Feuer regnete

und der Stahl in tausend Stücken

in dem engen Raum umherflog,

während nur der Griff allein

in der starken Hand zurückblieb.

(6, 268–303)


Kalevipoeg will diese Waffen nicht; da bringt ihm der alte Waffenschmied das Meisterstück seiner Kunst, an dem er sieben Jahre [270] gehämmert und gefeilt hat und das von Kalev, dem Helden, bestellt gewesen ist.


Kalevs Sprößling nahm die Waffe

aus der Hand des Schmiedemeisters

still und ehrfurchtsvoll entgegen,

und nachdem er sie gefaßt,

ließ er sie in mächtgem Schwunge

wirbelnd wie ein Feuerrad

um sein Handgelenk sich drehen.

Sausend flog die blanke Klinge

durch die Luft, wie wenn im Sturm

eine Hagelwolke rasselnd

ihrer Schloßen sich entledigt

und dazu die Windsbraut heulend

über die empörten Wogen

durch die Wälder rast und wütet,

daß die hundertjährgen Eichen

krachend ihre Gipfel neigen

und erzürnt den Rasen peitschen,

und die Dächer von den Hütten

mit dem aufgeregten Sande

hoch sich in die Luft erheben

und den Wolken eilig folgen.


Kalevs edler Riesensprößling

ließ alsdann die Wucht der Klinge

mit der Schnelligkeit des Blitzes

in den mächtgen Amboß fahren,

und die sieggewohnte Rechte

spaltete den schweren Amboß

nebst dem dichtberingten Klotze,

der ihn trug, bis auf den Boden,

ohne daß die blanke Schneide

auch nur eine leichte Schramme

sichtbar nachbehalten hätte.

(6, 442–474)


[271] Kalevipoeg behält dieses Schwert und verspricht, von Estland her reichen Lohn zu senden. – Es folgt ein Gelage. In der Trunkenheit prahlt der Held mit der genossenen Gunst der Eilandstochter. Ein Sohn des Schmieds stellt ihn darob zur Rede, muß jedoch diese Kühnheit mit seinem Kopfe büßen. Der alte Schmied legt einen Fluch auf Kalevs Sohn, der den Frieden des Hauses gebrochen hat:


»Möge dich mein Fluch begleiten,

bis er an dir wahr geworden,

bis das Schwert, das du entweiht,

dich einst selber hingemordet ...«


Kalevipoeg entweicht, kommt zur Besinnung und kehrt in seine Heimat zurück. – Im Wettkampf mit seinen Brüdern gewinnt er das Erbe seines Vaters und wird König.

Nun folgen eine Reihe von Abenteuern, die der Held, in die Ferne nach Osten wandernd, erlebt. Er gelangt an den Peipussee und durchschreitet ihn in einer Stunde. Ein Zauberer versucht, das Schwert zu rauben, während der Held schläft, läßt es aber in einen Fluß fallen und vermag es nicht herauszuheben. Kalevipoeg geht den Spuren nach, findet sein Schwert, läßt es aber im Flusse liegen, weil es selber erklärt, es wünsche nicht, von der Hand eines Zornmütigen geführt zu werden.

Kalevs Sohn gerät hierauf in einen Kampf mit den Söhnen des finnischen Zauberers. Der Held verteidigt sich mit einer Planke. Der Streit ist schwer. Kalevipoeg hört ein feines Stimmchen rufen: »Schlag mit der Kante! Mit der Kante!« Er folgt dem Rat und siegt.


Als der starke Sohn des Kalev

nach dem angestrengten Kampfe

sich ein wenig ausgeruht,

rief er, nach dem Busch sich wendend,

wo der Freund sich hören lassen:

»Gib mir Auskunft, lieber Bruder,

[272] Männchen mit der feinen Stimme,

wer du bist, mein Guter, Lieber,

der mir guten Rat erteilte,

als ich in der Klemme war!«


Männchen mit der feinen Stimme,

geistbegabtes kleines Männchen,

schnell den Sinn erfassend, sagte:

»Ich, ein kleines Männchen, war es,

ich, der arme nackte Igel,

der den Rat dir zugeflüstert,

dir den guten Rat gegeben.«

(12, 182–198)


Kalevipoeg fordert den Igel auf, doch aus dem Dickicht hervorzukommen, aber der Igel antwortet:


»Kann nicht kommen aus dem Dickicht,

kann nicht aus dem warmen Neste

in der kühlen Abendluft

das betaute Gras betreten.

Als der alte Weltenschöpfer

alle Wesen schuf auf Erden,

übersah es seine Weisheit,

daß ich ohne Rock geblieben,

ohne wärmende Bekleidung.

Wenn ich nacktes, schwaches Männchen

wagte, aus dem warmen Neste

an die freie Luft zu treten,

würd ich sicherlich erstarren,

würde mich die Kälte töten.«


Kalevs Sohn erwiderte:

»Höre, lieber, goldner Bruder,

armer, kleiner nackter Igel,

[273] komm getrost heraus ins Freie,

daß ich deine Blöße decken,

einen Pelz dir geben könne!«


Da entschlüpfte dem Gesträuche

aus dem warmen Nest der Igel,

nackt und bloß, ein kleines Wesen,

das vor Kälte gleich sich krümmte

und am ganzen Körper bebte.


Sprach zu ihm der Sohn des Kalev:

»Du erteiltest, lieber Igel,

guten Rat mir in der Not,

halfst mir glücklich aus der Klemme.

Mit der scharfen Kante hauend,

blieb ich Sieger auf dem Platze,

und mit Wolfsgeheul entflohen

noch zur rechten Zeit die Buben.

Zur Bezeugung meines Dankes

will ich dir von meinem Pelze

nur ein kleines Stückchen schenken,

das auch etwas stachlig ist,

doch als Überwurf dir dienen

und auch dazu nützen wird,

künftig Braun und Isegrim

dir vom Neste fernzuhalten.«


Also sprach der Sohn des Kalev,

riß ein Stückchen aus dem Futter

seiner eigenen Bekleidung

und verehrte es dem Igel.


Herzlich dankend nahm der Igel

das Geschenk und hüllte sich

sorglich in die warme Decke;

doch das Stückchen war so klein,

[274] daß es nur den Rücken deckte

und zur Not die beiden Seiten;

Bauch und Füße blieben immer

unbedeckt noch wie zuvor.


Seit dem Vorfall trägt der Igel

dieses dornbesetzte Röckchen,

das ihm sichern Schutz gewährt.

(12, 211–266)


Nach mannigfachen Abenteuern mit dem Peipuszauberer, mit den drei gefangenen Spinnerinnen im Höllenhof, von denen der Held drei Zaubergegenstände erhält – Schwert, Rute und Hut – und deren willfährige Gunst er ausgiebig genießt, und nach dem Kampf mit dem »Gehörnten« im Höllenhof, den er in die Erde stampft, kehrt Kalevipoeg in sein Reich zurück.

Hier beschließt er, zusammen mit Olevs Sohn, dem Baumeister, eine Stadt zu bauen. Noch bevor sie aber fertig ist, will er »weise Pfade erforschen« und bis ans Ende der Welt segeln. Auch auf dieser Fahrt erlebt er unzählige Abenteuer, gelangt u.a. in ein Riesenland, wo er sich als Kinderspielzeug vorkommt, erkennt aber schließlich das Nutzlose seiner Fahrten und kehrt heim. Lindanissa, die zum Gedächtnis seiner Mutter so getaufte Stadt, ist unterdessen erbaut. Dann bedrohen Feinde das Land, aber Kalevipoeg besiegt sie.

Noch einmal dringt der Held in die Unterwelt ein, hat manche Kämpfe zu bestehen und bindet schließlich den »Höllenalten«, nachdem seiner Mutter Schatten ihn gelehrt hat, daß der Höllenalte seine Kraft verliert, wenn er zu Boden geworfen wird. Es heißt hier:


Doch der Mutter Schatten schaute

wachen Blicks des Sohns Ermatten,

nahm den Wockenstock zu Handen,

schwenkt ihn zehnmal wohl im Kreise

übers Haupt im Wirbeldrehen

und warf krachend ihn zu Boden;

Vorbild war's dem Kaleviden.

[275] Und der starke Sohn des Kalev

wußte gleich der Mutter Meinung

sich verständig auszudeuten,

faßt den Feind am Wadenbande,

Hörneralten an dem Kniequirl,

hob ihn dann mit Windeseile

wie den Wockstock in die Höhe,

dreht ihn zehnmal wohl im Kreise

wie ein Bündel Werg den Alten,

warf ihn mit gewaltgem Schwunge

klatschend nieder an den Boden.

Stemmt die Knie ihm auf die Brust dann,

faßt die Gurgel mit den Fäusten,

sucht den Alten zu erwürgen;

griff nach seinem Gurt am Leibe,

um den Bösen festzuschnüren.

Und er schleppte den Besiegten

an dem Strang zur Eisenkammer,

schlug die Füße ihm in Fessel,

legte ihn in Kettenbande

so an Füßen wie an Händen,

band sodann die dritte Fessel

reifenartig um den Hals ihm,

vierte Fessel um den Leib ihm.

Und er festigte die Enden

in die starke Felsenmauer,

rollt herbei dann einen Feldstein

wie ein Häuschen groß als Türe,

und er band des Halses Fessel

an den Stein mit starken Knoten,

festigt sie mit Eisenklammern,

so daß nicht aus Stub und Kammer

schreiten könnt der Höllenalte.

(19, 64–103)


Kalevipoeg nimmt vier Säcke Gold mit sich und zieht heimwärts. Unterdessen sind von Olevs Sohn drei weitere Städte erbaut. [276] Kalevipoeg entsagt allen Abenteuern und tut seinem Lande viel Gutes. Seine Untertanen wünschen, er solle heiraten, aber er weigert sich dessen.

Wiederum droht Krieg. Kalevs Sohn bittet seinen Vater im Grabhügel um Rat, erhält aber keine Antwort. Er vergräbt nun seinen Goldschatz, um ihn vor dem Feinde zu sichern, sammelt sein Heer und kämpft gegen die Ritter. Schwer ist der Sieg, allein er erringt ihn dank seiner gewaltigen Kraft und dem treuen Beistand seiner Mannen.

In der zweiten Schlacht jedoch gegen Polen, Tataren und Litauer fallen alle die Seinen bis auf Olevs Sohn; von den Feinden freilich entrinnt keiner, sie alle sinken unter den gewaltigen Streichen des Helden zu Boden. – Kalevipoeg überläßt nun Olevs Sohn die Herrschaft in Lindanissa, zieht sich selber in eine Einsiedlerstätte mitten im Walde zurück und führt dort ein beschauliches, ärmliches Leben.

Einst wandert er zum Peipussee und durchquert den Fluß, in dem sein altes gutes Schwert liegt. Da muß ihm das Schwert, dem Fluche des Finnland-Schmiedes gehorchend, beide Unterschenkel abschneiden. Kalevipoeg stirbt; sein Todesschrei steigt hinauf zum Himmel, und seine Seele schwingt sich empor zur Halle seiner Ahnen.

Der Held gelangt zu Altvater, und der vertraut ihm nach langem Besinnen an, denn er weiß nicht sogleich, welches Amt er dem gewaltigen Manne geben könne, das Höllentor zu bewachen und den Gehörnten zu hüten, damit er nicht entweiche.

Als Kalevipoeg vor dem Felsentor angelangt ist, ruft eine Stimme von oben:


»Schlage mit der Faust den Felsen!«

Und die schwere Hand erhebend

schlug er mit der Faust den Felsen,

daß sie spaltend tief hineindrang:

und die Rechte blieb gefangen.

Dort auf seinem Rosse reitet

heute noch der Kalevide

[277] handgefesselt an dem Felsen,

und bewacht am Höllentore

andrer Fesseln, selbst gefesselt.


Höllengeister suchen emsig

doppelt angebranntes Kienholz,

um die Ketten zu zerbröckeln,

um die Fesseln zu zerreißen,

deren Ringe um die Julzeit

schrumpfen ein zu Härchendicke.

Aber ruft der Hahn im Frührot

von des alten Vaters Toren,

um das Julfest anzukünden:

werden jener Kette Glieder

alle plötzlich wieder dicker.


Kalevs Sohn versucht die Rechte

mit Gewalt von Zeit zu Zeiten

aus der Felsenwand zu reißen,

und mit Schütteln und mit Rütteln

macht den Boden er erbeben

und die Hügel zitternd schwanken,

und das Meer fängt an zu schäumen;

doch ihn hält die Hand von Mana:

daß die Wächter nicht vom Tore,

der Beschützer nicht entweiche.


Einmal wird die Zeit beginnen,

wo die Späne von zwei Seiten

in gewaltgen Flammen brennen,

und die offnen Gluten schmelzen

dann die Hand auch von dem Felsen.

Dann kehrt Kalev auf die Erde,

seinem Volke Glück zu bringen,

eine neue Zeit der Esten.

(20, 1016–1054)


Fußnoten

1 Ein Spiel mit Holzklötzchen, die auf der Erde in bestimmter Form aufgebaut werden; man wirft mit einem Knüppel nach ihnen und sucht sie aus dem abgegrenzten Raum hinauszutreiben.


2 Die steile nördliche Felsküste Estlands wird der Glint genannt.


Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 262-279.
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