[259] 83. Die kämpfenden Brüder

Es lebte ein Mann mit seiner Frau, die hatten drei Söhne und eine Tochter. Die Frau starb, der Mann nahm sich eine andere Frau – das war eine Hexe.

Und so lebten sie nun miteinander. Einstmals fuhr der Mann mit der Frau zur Kirche. Die Söhne sagten: »Wie, sind sie in die Kirche gefahren?« Ein jeder ging, um sich ein Pferd auszusuchen; ein jeder aber wollte das beste haben, so zankten sie und kämpften, bis der Vater und die Mutter zurückkamen. »Warum kämpft ihr?« – »Um die Pferde kämpfen wir!« – »Kämpft ihr jetzt, so möget ihr euer Leben lang kämpfen!« fluchte die Mutter. Kaum war das Wort heraus, so gingen die drei, immer noch kämpfend, davon.

Jetzt blieb nur noch die Schwester nach; aber diese wurde von der Hexe geschlagen und gequält; Hunger mußte sie leiden, sogar ihrem Leben stellte man nach. Die Schwester entfloh und dachte: ›Vielleicht finde ich meine Brüder.‹

[259] Sie ging und ging, bis sie zu einer alten, verfallenen Hütte kam, und da ging sie hinein und fand dort einen alten Mann. »Guten Tag, liebes Kind, wohin gehst du?« – »Ich gehe, meine Brüder zu suchen.« – »Wo sind denn deine Brüder geblieben?« Das Mädchen erzählte dem Alten, wie die Stiefmutter die Söhne verwünscht habe. »Leg dich hin, liebes Kind, vielleicht kann ich dir helfen.«

In der Nacht rief der Mann alle Tiere im Walde zusammen, die Wölfe, die Bären, die Füchse, die Elche – kurz alles, was sich im Walde bewegte. »Ihr kommet in alle Welt, sahet ihr nicht drei kämpfende Brüder?« Niemand aber hatte sie gesehen.

»Mach dich wieder auf den Weg, liebes Kind«, unterwies sie der Alte am andern Morgen, »du wirst bald zu einer ebensolchen Hütte kommen, wie die meinige ist; vielleicht findest du dort Hilfe, ich vermag dir nicht zu helfen.«

Das Mädchen ging und ging und kam zu einer verfallenen Hütte; drin wohnte auch ein altes, graues Männlein. »Wo führt dich denn Gott her, liebes Kind?« Das Mädchen erzählte ihm, weshalb sie wandere. »Leg dich hin; der Morgen ist klüger als der Abend!«

Der Alte ging in die Nacht hinaus vor die Hütte und rief: »Es sollen sich versammeln alle Vögel, die unter dem Himmel fliegen!« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so entstand ein Rauschen, ein Brausen auf allen Seiten. Es flogen zusammen alle Vögel, die kleinen wie die großen. »Ihr sehet die ganze Welt; sahet ihr nicht die drei kämpfenden Brüder?« – »Wir haben sie gesehen; über neun Könige Land, am Meeresstrand, da kämpften sie mit eisernen Keulen.«

Der Alte gab dem Mädchen einen Knäuel. »Wohin dieser rollt, dahin folge du nach!« Der Knäuel rollte zu den Brüdern.

Da war ein altes Hüttlein; im Hüttlein alles leer, nur drei Brötlein auf dem Tisch. Das Mädchen nahm des ältesten Bruders Brötlein und schnitt es an. Die Brüder kamen nach Hause. Der älteste erblickte sein Brot und sagte: »Wer hat mein Brötlein angeschnitten?« Die andern meinten: »Gott gibt uns Brot, er hat es vielleicht auch genommen.« Die Schwester hielt sich hinter dem [260] Ofen versteckt; sie sah, wie die Brüder in großer Eintracht lebten: sie küßten einander, und es fiel kein böses Wort. Doch als die Zeit zum Kämpfen kam, da nahmen sie ihre Keulen, begaben sich an den Meeresstrand und schlugen wieder aufeinander los.

Die Schwester nahm nun des zweiten Bruders Brötlein, zerschnitt es und versteckte darin der Mutter Ring. Die Brüder kamen nach Hause und schauten: »Wer mag das getan haben?« Sie erkannten ihrer Mutter Ring. »Vielleicht ist es unsere Schwester, die uns den Ring gebracht hat? – Schwester, bist du's, dann tritt hervor!« Die Schwester trat hervor, alle Brüder fielen ihr um den Hals; sie unterhielten sich und sagten: »Hör, Schwester! Hier kannst du nicht leben. Kommt die Stunde, wo wir kämpfen müssen, da schlagen wir auch dich. Doch wenn du neun Jahre hindurch kein Wort sprichst, man mag dich quälen, man mag dich martern, dann wirst du uns erretten – sonst nie!«

Die Stunde brach an; die Brüder fingen an zu kämpfen, sie schlugen aufeinander los mit eisernen Keulen. Die Schwester aber entfloh; und auf der Flucht stürzte sie in eine Grube, die am Wege war. Da fuhr der Königssohn an der Grube vorbei, zwei Kutscher saßen auf dem Bock. »Hier war ein Mädchen, wo ist es geblieben?« Der Königssohn schickte den einen Kutscher, nachzusehen; der schaute und erblickte das Mädchen. So schön, so schön war es, daß er nicht vermochte, sich vom Anblick zu trennen. Der Königssohn aber wartete und wartete und schickte endlich den zweiten Kutscher. Dem erging es ebenso: auch er vermochte nicht die Augen abzuwenden. Da lief der Königssohn selber hin, um nachzusehn. Auch ihm gefiel das Mädchen; er zog es aus der Grube, nahm es in seine Kutsche, brachte es nach Hause und machte es zu seiner Frau.

Die Schwester lebte ein Jahr mit ihm und wurde Mutter eines Söhnleins. Doch die Stiefmutter des Königssohnes nahm das Kind, schnitt ihm den Fuß ab, bestrich die Mutter mit dem Blute des Kindes und steckte ihr sogar den Fuß in den Mund. Drauf ging sie zum Königssohne und klagte: »Sieh doch, was deine Frau gemacht hat – ihr eigenes Fleisch und Blut hat sie umgebracht; dafür müßte auch sie umgebracht werden.« Doch der [261] Mann antwortete: »Sie ist eine so gute Frau, wenn sie auch nicht spricht – sie soll noch leben, was sie auch getan haben mag.«

So lebte sie und lebte und wurde wieder Mutter eines Kindes. Die Stiefmutter schnitt dem Kinde eine Hand ab, bestrich mit dem Blute die Lippen der Mutter und steckte ihr sogar die Hand in den Mund. Drauf eilte sie zum Königssohn und klagte: »Komm doch und sieh, was deine gute Frau getan hat, ihr eigenes Fleisch und Blut hat sie umgebracht; die Hand steckt ihr noch im Munde. Laß sie vertilgen von Gottes Erdboden.«

Der Königssohn wollte sie immer noch nicht töten lassen, doch die Stiefmutter drängte ihn, bis sie ihn schließlich soweit hatte. Der Königssohn ließ einen Pfosten einrammen, an diesem sollte seine Frau erhängt werden. Doch während sie zur Hinrichtung hingeführt wurde, waren die neun Jahre gerade um. Da laufen die Brüder zu ihr, und Engel kommen aus dem Himmel und rufen: »Wie könnt ihr diese fromme Seele quälen und töten?« – »Richtet selber: sie hat ihre Kinder aufgefressen!« Doch die Engel Gottes sagen: »Tragt alle in den Himmel, aber die Stiefmutter stoßt in die Hölle, wo es weder Mond noch Sonne gibt!«

So wurde es auch ausgeführt.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 259-262.
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