[255] 82. Der Bösen Tochter und das Waisenmädchen

Eine Mutter hatte eine Tochter. Sie lebten und lebten und gingen einmal zu Gast; und da geschah es, daß sie vom Wege abirrten. Die Böse gesellte sich zu ihnen; sie schleppte die Mutter, sie schleppte auch die Tochter hinweg. Sie lebten bei der Bösen; da tötete die Böse die Mutter, kochte sie in einem Kessel und verzehrte sie. Die Tochter weinte und weinte, die Mutter rief: »Kindlein, weine nicht, nimm meine Gebeine und schlag sie in ein weißes Tuch!« Die Tochter sammelte unter dem Tisch der Mutter Gebeine, da kam die Böse hinzu: »Was machst du da? Weshalb ißt du nicht?« – »Ich hab schon an den Knochen genug.«

Am Sonnabend heizte man die Badestube. Die Böse sagte zu ihrer Tochter und zum fremden Mädchen: »Wer von euch ihr Haar schneller trocknet, die nehme ich morgen mit in die Kirche.« Sie gingen in die Badestube, sie wuschen sich rein; der Bösen Tochter drehte sich den Kopf ab und trocknete sich schnell das Haar.

Am Sonntag fuhr die Böse mit ihrer Tochter zur Kirche, das Waisenmädchen blieb zu Haus; sie weinte und weinte; da fragten der Mutter Gebeine: »Was ist das, ist es ein warmer Regen?« – »Das ist kein warmer Regen, das sind meine Tränen!« – »Hast du's schwer, Töchterchen?« – »Schwer, schwer, Mütterlein.« – »Geh in den Schweinestall, da wirst du finden, was dich erfreut.« Die Tochter ging in den Schweinestall: da erhielt sie herrliche Kleider, erhielt goldene Schuhe; vor der Kutsche warteten die Pferde, das Mädchen brauchte sich nur hineinzusetzen und fuhr zur Kirche; sie betete ihre Gebete und eilte wieder nach Haus. Unterwegs schaute ein Bursche: »Woher mag doch dieses schöne Mädchen sein, herrliche Kleider, eine prachtvolle Kutsche?«

Wie die Böse mit ihrer Tochter aus der Kirche kam, war das Waisenmädchen [255] schon bei der Arbeit und fragte: »Nun, was habt ihr in der Kirche Neues gehört, gesehen?« – »Wir haben manches gesehen, was deine Augen nicht gesehen haben: ein Mädchen fuhr zur Kirche, schön war sie, stolz, herrliche Pferde hatte sie vor der Kutsche; wir konnten nicht in ihre Nähe, so drängte sich das Volk um sie; doch sie schaute nicht einmal hin; sie fuhr weg, niemand weiß, wohin.«

So lebten sie und lebten sie, bis wieder der Sonnabend da war. Man heizte die Badestube. Die Böse sagte wieder zu den Mädchen: »Wer von euch schneller ihr Haar trocknet, die werde ich morgen mitnehmen zur Kirche, die andere bleibt zu Haus.« Sie gingen in die Badestube. Der Bösen Tochter machte es natürlich keine Mühe, ihr Haar zu trocknen, sie drehte sich einfach den Kopf vom Leibe und trocknete dann das Haar.

Am Sonntag fuhr die Böse mit ihrer Tochter zur Kirche, die Waise blieb zu Haus. Sie ging wieder zu den Gebeinen der Mutter, sie weinte, weinte sehr bitter; die Gebeine sagen: »Oh, es fällt wohl warmer Regen!« – »O nein, es fallen meine bitteren Tränen!« – »Hast du es denn so schwer, Töchterchen?« – »Schwer, ja, Mütterchen.« – »Nun, tritt in den Schweinestall, da findest du vielleicht, was dich erfreut.« Das Mädchen trat in den Schweinestall und erhielt dort schöne Kleider, goldene Schuhe, eine Kutsche mit prachtvollen Pferden. Das Mädchen setzte sich in die Kutsche, fuhr zur Kirche, betete inbrünstig, betete unter vielen Tränen. Dann fuhr sie wieder dem Hause zu. Der Bursche schaute wieder und spähte: »Wohin mag sie doch fahren?« Nichts sah er, verschwunden war sie; das Mädchen saß schon zu Hause bei der Arbeit.

Die anderen kamen auch bald nach Hause und erzählten, welch eine Pracht sie erschaut; heute seien sie schon etwas näher gekommen. »Du Armselige, du hast gar nichts gesehen!« – »Wo soll ich, arme Waise, weder komm ich zur Kirche noch anderswohin!«

Es kam der dritte Sonnabend; man ging in die Badestube; der Bösen Tochter hatte ihr Haar wieder schneller trocken: sie drehte nur den Kopf vom Leibe und trocknete dann. Am Sonntag mußte natürlich die Waise zu Hause bleiben, die anderen fuhren zur [256] Kirche. Die Waise weinte bitter bei der Mutter Gebeinen. Die Gebeine fragten: »Ist das ein warmer Regen?« – »Nein, das sind meine bitteren Tränlein!« – »Geh, Tochter, in den Schweinestall, da erhältst du, was dich erfreuen soll.« Die Tochter ging in den Schweinestall und erhielt noch prächtigere Kleider als früher, erhielt goldene Schuhe; sie setzte sich in die Kutsche, fuhr zur Kirche, betete in der Kirche inbrünstig, betete von ganzem Herzen; wie sie gebetet hatte, fuhr sie wieder dem Hause zu.

Doch der Bursche hatte erspäht, wohin sie fuhr; er versteckte sich unter einer Brücke, und als das Mädchen vorbeifuhr, kam er unter der Brücke hervor und hielt die Pferde an: »Wohin fährst du? Wer bist du?« – »Halte mich nicht an, ich muß schnell nach Hause fahren.« – »Ich komme zu dir auf die Freite!« – »Du wirst mich nicht erkennen!« – »Gib mir einen Goldschuh, wem dieser paßt, die will ich heiraten.« Das Mädchen gab ihm einen Goldschuh.

Der Bursche nahm den Schuh und ging auf die Freite: »Wem dieser Schuh paßt, die soll die Meine werden.« Die Böse gab den Schuh ihrer Tochter; dieser paßte der Schuh nicht, ihr Fuß war zu groß. Da nahm die Mutter ein Beil, hieb ihr eine Zehe ab, brachte das Mädchen zum Freier: »Hier ist die Deinige!« Der Bursche nahm sie und erkannte nicht, daß es eine Fremde war.

Schon fuhr er, da sah er: am Wege ein Apfelbaum, voll goldener Äpfel, ein kleiner See, goldene Fische darin. Diese Apfelbäume, diese goldenen Fische – alles war entstanden aus den Eingeweiden der Mutter des armen Mädchens, als die Böse sie getötet hatte. Der Freier erblickte die Äpfel, die Fische und sagte: »Wer mir einen Apfel holt, wer mir einen Fisch holt, die will ich heiraten.« Die Tochter der Bösen ging, um das Verlangte zu holen, konnte es aber nicht: der Apfel schlägt sie, der Fisch schwimmt weit weg in den See. Da kam das Waisenmädchen, nahm den Apfel, nahm das Fischlein, gab sie dem Freier und sang selbst dazu:


»Bringet als letzte,

haltet für die geringste –

werfet nieder meinen Goldschuh!«


[257] Der Freier erkannte die Seinige, er hielt an, warf der Bösen Tochter in den See und nahm das Waisenmädchen mit sich.

Nach einiger Zeit begab sich die Böse zur Tochter, um zu sehen, wie es mit der jungen Frau Gesundheit stehe. Als sie zum See kam, sah sie: unter der Brücke wuchs ein hoher Rohrstengel hervor; dieser war entstanden aus der Tochter Nabel. Die Böse dürstete; als sie unter die Brücke ging, um ihren Durst zu löschen, da sang das Rohr:


»Mütterchen, Mütterchen,

reiß mich aus der Erde,

Mütterchen, Mütterchen!«


Die Mutter erkannte, wer das sang; sie riß das Rohr heraus, und die Tochter war sofort am Leben. Dann fuhren sie zum Schwiegersohn; da stillte die Mutter gerade ihr kleines Kindlein. Die Böse warf der Frau eine Wolfshaut über; die Frau wurde zur Wölfin und lief weg in den Wald. Die Böse bettete unter die Decke statt der Frau ihre eigene Tochter, doch diese hatte dem Kinde keine Nahrung zu bieten; das Kind schrie, es schrie so, daß es traurig anzuhören war.

Die Hirtin aber hatte dieses alles gesehen, sie nahm das Kind, trug es zum Walde und sang:


»Mütterchen, Mütterchen,

komm und biet die Brust dem Kindlein!

Judas läßt dein Kindlein saugen

morgens an dem Stuteneuter,

mittags saugt es an der Spindel!«


Eine Wölfin kam aus dem Dickicht und warf ihre Haut auf einen Stein; es war des Kindes Mutter; sie bot ihrem Kind die Brust und verschwand dann wieder im Walde.

Am zweiten Tage brachte die Hirtin das Kind wieder zum Walde, um es stillen zu lassen. Sie sang:


»Mütterchen, Mütterchen,

komm und biet die Brust dem Kindlein!

[258] Judas läßt dein Kindlein saugen

morgens an dem Stuteneuter,

mittags saugt es an der Spindel!«


Wieder kam die Wölfin aus dem Walde, warf ihre Haut auf den Stein, stillte das Kind und verschwand darauf. Doch der Mann hatte es zufällig gesehen; er kam zur Hirtin: »Was ging hier vor sich?« Die Hirtin entdeckte ihm alles: »Zwei Personen kamen zu dir zu Gast, die andere blieb, deine Frau wurde in eine Wölfin verwandelt.«

Der Mann ging, um sich das Los werfen zu lassen; wie die Weise ihn lehrte, so führte er es aus: er brannte den Stein heiß, brannte ihn glühend. Die Frau kam wiederum ihr Kind stillen; sie warf die Wolfshaut auf den Stein, diese verbrannte sofort. Der Mann hatte wieder seine Frau und brachte sie nach Hause; doch der Bösen Tochter erschlug er mit dem Schwert.

Da fing er wiederum mit seiner Frau an zu leben, und die Böse kam nicht mehr, um ihnen nachzustellen.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 255-259.
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