[75] 24. Die Ehegatten

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die lebten in Frieden und Eintracht miteinander und hatten sich so gern, wie es besser nicht möglich war. Als sie so lebten, redeten sie einmal miteinander, und der Mann sagte zu der Frau: »Wenn ich sterbe, wirst du dir einen anderen Mann nehmen.« Und die Frau sagte darauf: »Und du nimmst dir sicher eine andere Frau, du bleibst nicht ledig.« Aber einer glaubte dem anderen nicht. Dann machten sie miteinander aus, daß weder er noch sie wieder heiraten wollten. Da starb die Frau. Erst lebte der Mann eine Weile ohne Frau, weil er überhaupt nicht wieder heiraten wollte. Als aber eine Zeit vergangen war, dachte er: ›Was soll ich um sie trauern? Ich heirate[75] wieder.‹ Und er nahm sich eine Frau. Schon wollte er sie zur Trauung führen, da fiel ihm ein: ›Ach, ich will doch zu meiner Frau gehen und ihr Lebewohl sagen, die Tote um Verzeihung bitten.‹ Er ging hin und verbeugte sich am Grabe: »Verzeih mir! Ich gehe zur Trauung, ich heirate wieder.« Da öffnete sich das Grab – die Braut war bei der Kirche stehengeblieben, während der Mann seine verstorbene Frau besuchte –, da öffnete sich das Grab, und sie rief ihn zu sich: »Komm, komm, fürchte dich nicht, komm hierher!« Sie rief ihn ins Grab und sagte zu ihm: »Weißt du nicht, daß wir uns versprochen hatten, daß der nicht wieder heiraten sollte, der übrigbliebe?« Und sie forderte ihn auf, auf dem Sarge zu sitzen. »Trinkst du Wein?« sagte die Frau im Grabe zu ihm. Und sie gab ihm einen Becher, und der Mann trank. Dann wollte er fortgehen. Aber sie bat: »Bleib noch hier und laß uns vertraulich plaudern!« Sie goß ihm einen zweiten Becher ein, und der Mann trank wieder. Dann stand er wieder auf und wollte gehen, aber wieder sagte sie: »Laß uns noch plaudern!« Und der Mann blieb und plauderte. – Zu Hause hielten sie eine Andacht, weil sie glaubten, der Mann sei gestorben. Die Braut wartete und wartete und ging schließlich zu ihren Eltern zurück. – Und sie gab ihm den dritten Becher, und immer noch bat sie ihn zu bleiben. Endlich ließ sie ihn fort: »Geh nun hin!« sagte sie.

Da ging der Mann fort. Er kam zur Kirche, aber da war kein Pfarrer mehr, nichts mehr – und er selbst war grau wie ein alter Wiedehopf, weil er dreißig Jahre im Grabe gewesen war.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 75-76.
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