[76] 25. Lügenmärchen

Wir hatten einen Herrn, der war ein Geizhals. Er aß sich bei andern satt, aber selbst lud er niemand ein. Wenn er zu Mittag aß, stand ein Wächter an der Tür und paßte auf, daß niemand hereinkam.

Nun gaben sie in einem andern Gehöft ein Gastmahl, wozu auch er eingeladen war. Vier, fünf Herren saßen zusammen und überlegten, wie sie ihn zum besten haben könnten.[76]

Wenn sie ihm nur eine Schüssel voll wegschnappten! Da sagte der Lakai, der hinter seinem Herrn stand: »Ich will ihn zum besten haben, lieber Herr.« Und der Herr sprach zum Lakaien: »Wenn du's kannst, sollst du hundert Taler haben, aber wenn du's nicht kannst, bekommst du hundert Rutenstreiche.« Der Lakai sprach: »Laßt den Herrn hierherkommen und sagt zu ihm: ›Mein Bursch will Euch zum besten haben!‹ Dabei wettet um dreihundert Rubel.« Sie riefen den Herrn und sagten zu ihm: »Der Bursch hier will Euch zum besten halten.« Da sprach der Herr: »Das wird ihm nicht gelingen«, und er machte vor allen die Wette! Es war aber so verabredet, daß er nicht sagen durfte: »Das ist nicht wahr!«

Nun, der Lakai begann: »Mein Vater hatte drei Söhne, da ich der älteste davon war, habe ich von meinem Vater nichts bekommen als einen klapprigen Gaul. Ein Beil hatte ich selbst. Ich steckte das Beil in den Gürtel und ging hin, um nach meinem Pferd zu sehen. Das Pferd wollte sich losreißen. Ich guckte, da hatten die Wölfe das halbe Pferd aufgefressen. Da griff ich zu meinem Beil, schlug einen Wolf tot, nahm sein Fleisch und drückte es dem Pferde an. Es klebte fest, und das Pferd wurde wieder gesund.« Da fragte er den Herrn: »Glaubt Ihr das?« – »Ja«, sagte der Herr.

»Dann ritt ich nach dem Wald, das Pferd fing an, langsam zu gehen, schließlich konnte es nicht mehr vom Fleck. Ich sah hinter mich, da wuchs dem Pferd aus dem Hinterteil ein Baum, so lang, daß der Gipfel bis in den Himmel reichte. Ich kletterte an dem Baum in die Höhe und kletterte so lange, bis ich im Himmel war.« Wieder fragte er den Herrn: »Glaubt Ihr das?« – »Ja«, sagte der Herr.

»Dort habe ich den und den gesehen«, erzählte der Lakai. Der Herr fragte: »Hast du auch meinen Vater gesehen?« – »Ei, freilich!« – »Was macht er denn dort?« – »Er hütet die Schweine.« Da sagte der Herr: »Du hast mich zum besten.« Und der Lakai rief: »Das Geld ist mein, ich hab ihn zum besten gehabt.« Der Herr redete dagegen, aber die andern standen auf der Seite des Lakaien. Da war nichts zu machen. Die Wette mußte er zahlen, dreihundert Rubel.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 76-77.
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