[77] 26. Das rote Schaf, an dem alles hängen blieb

[77] Es war einmal ein Hirt, der hütete die Schafe. Er hatte ausgemacht, daß er von jedem Schaf, das geboren würde, dreißig Heller als Lohn bekäme, daß ihm aber für jedes Schaf, das verlorenginge, dreißig Heller abgezogen werden sollten. Da kam in der Nacht ein Mann zu ihm – er wohnte im Walde, wo er sich eine hübsche Hütte gebaut hatte –, der bat, ihn zu beherbergen. »Nun«, meinte der Hirt, »ich will einmal dreißig Heller draufgehen lassen«, ging hin und schlachtete ein Lamm und kochte das Fleisch für den Wandersmann. Dann begaben sie sich beide zur Ruhe.

Am andern Morgen sagte der Wandersmann zu dem Hirten: »Geh in die Hürde und sieh nach deinen Schafen!« Er ging hin, und die Hürde war voll von Schafen. In der Mitte der Hürde aber stand ein großes Lamm. Und der Fremde sprach: »Alle Schafe laß deinem Herrn, bloß das rote Schaf nicht, das behalte!« Und sein Herr gab ihm dreißig Heller für jedes Lamm. Dann ging er fort, und das rote Lamm lief ihm nach.

Zur Nacht kehrte er in eine Herberge ein und legte sich schlafen. In dem Haus aber waren ein Mädchen, eine Frau und ein Mann, das war die ganze Familie. Mann und Frau gingen frühmorgens in die Darre. Da sagte das Mädchen und zeigte auf das rote Lamm: »Das gäbe schöne Handschuhe«, aber als sie sich eine Locke abschneiden wollte, blieben ihre Hände an dem Schaf hängen. Sie fing an zu schreien, und der Mann eilte aus der Darre herbei und schlug das Lamm mit einer Rute. Da blieb auch die Rute am Schaf hängen und der Mann am Rutenstiel. Nun kam die Frau aus der Darre mit dem Kehrbesen in der Hand. Sie schlug auf das Schaf, und der Besen blieb hängen und die Frau am Besenstiel.

Und siehe da, es lebte eine Königstochter, die war immer traurig und lachte niemals. Da hatte der König verkündet, dem, der seine Tochter zum Lachen brächte, wollte er die Hälfte seines Reichs und seine Tochter zur Frau geben. Da ging der Hirt mit seinem[78] Schaf hin – an dem Schaf hingen der Mann, die Frau und die Tochter –, und die Königstochter fing an zu lachen. Da gaben sie ihm die Prinzessin zur Frau und die Hälfte des Königreichs. Danach machte er die andern frei, und sie lebten glücklich, und vielleicht leben sie heute noch.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 77-79.
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