[130] 41. Die Tochter des Kaufmanns

Es war einmal ein Kaufmann mit seiner Frau, die hatten keine Kinder. Darüber war der Kaufmann sehr betrübt, daß ihnen der Herrgott keine Kinder gegeben hatte. In seinem Kummer fuhr er über Land, fuhr und fuhr und kam an einer Kirche vorbei,[130] und sein Fuß berührte eine Ecke der Kirche. Da fing die Kirche an zu sprechen: »Was möchtest du denn?« Er antwortete: »Ich möchte nichts weiter, als daß ich ein Kind hätte.«

Der Kaufmann und seine Frau aber waren beide schon betagt. Da schenkte ihnen Gott einen Sohn und eine Tochter, das waren Zwillinge. Die waren beide so hübsch, wie die Menschen ihresgleichen nie zuvor gesehen hatten. Die Kinder waren noch klein, da starb ihnen die Mutter. Da zog der Vater allein beide groß. Dann fuhr er mit seinem Sohn auf das weite Meer hinaus und ließ das Mädchen als Wirtschafterin daheim.

Der Kaufmann aber hatte einen Bruder, der war etwas schwachsinnig, der wohnte auf der Bodenkammer und kam weder in die Stube noch ging er sonstwohin. Die Tochter des Kaufmanns brachte ihm das Essen hinauf. Da will sie der Alte an sich reißen, aber sie packt ihn und wirft ihn gegen die Wand. Darüber wurde ihr Oheim sehr erbost und schrieb an ihren Vater: »Sie lebt liederlich und bringt das Haus des Kaufmanns herunter.« Als der Vater den Brief bekam, wurde er sehr verstimmt. Er schickte seinen Sohn hin, seine Tochter zu töten. »Geh und töte sie!« sagte er. Er gab ihm ein Messer und einen weißen Teller: »Bring mir Herz und Lunge hierher!«

Der Junge ging. Als ihn die Schwester kommen sieht, ruft sie: »Da kommt der Bruder!« Und sie springt ihm freudig entgegen. »Freu dich nicht über mich, Schwesterchen«, sagt der Bruder, »ich komme, um dich zu töten.« – »Brüderchen, das tust du doch nicht.« – »Ich darf dich nicht am Leben lassen, Schwesterchen, der Vater schlägt mich sonst tot.« – »Schlachte das Schwein, lieber Bruder!« – »Schwesterchen, das Schwein kann ich nicht schlachten, das Schwein quiekt.« – »Dann töte den Hund, lieber Bruder, nimm ihm Herz und Lunge, der Vater weiß ja nicht, ob sie von einem Menschen oder einem Hunde sind; ich gehe fort, zeige mich keinem Menschen, niemandem.« Da tötete der Bruder den Hund, nahm Herz und Lunge und brachte sie dem Vater. Der Vater nahm sie und warf sie ins Meer.

Das Mädchen nahm die besten Kleider der Mutter, band sie in ein Bündel und zog selbst die schlechtesten Kleider an und ging[131] von Haus fort. Sie wanderte, wanderte einen Tag, einen zweiten, einen dritten, ohne zu essen, ohne einen Bissen Brot. Da sieht sie einen abgebrochenen Baum. Dort ist eine Höhlung, dahinein springt sie. Tagelang steht sie in dem Baume. Als sie aufhorcht, vernimmt sie Sprechen vom Meeresufer. Dann fingen Leute an, den Baum abzusägen. Sie sägten, sägten, und die Säge wollte die Kleider des Mädchens erfassen. Da sagte einer der Sägenden: »Der braucht nicht gesägt zu werden, hier kann sonstwer im Baume sein.« Der andere aber sprach: »Gesägt muß er werden.« – »Das muß er nicht, wir wollen es dem Kaufmann sagen.« Sie sagten es dem Kaufmann, der kam und guckte und sprach: »Stellt eine Bank an, damit ihr weiter oben sägen könnt.« Sie stellten eine Bank an und sägten ihn weiter oben. Da kam das Mädchen zum Vorschein. Es war so schön, wie es noch kein Mensch gesehn hatte:


Das Siebengestirn auf den Schultern,

Flimmersternchen an den Haaren,

Eine Sonne auf dem Scheitel.


Der Kaufmann sah sie an und sagte: »Sie ist nicht übel, sie ist von unsrem Schlag.« Er nahm das Mädchen in seinen Prahm und behielt sie dort zwei Wochen. Dann brachte er sie nach Hause, aber sie sprach nichts, verrichtete nur allerlei Arbeiten. Der Kaufmann war unverheiratet, und er dachte: ›Wenn ich sie nur auf irgendeine Art zum Sprechen bringen könnte, so würd' ich sie zur Frau nehmen.‹

Am andern Morgen sagte er zu seinem Vater und zu seiner Mutter: »Segnet mich, ich will sie zu meinem Weibe machen.« Da sagten Vater und Mutter: »Wie kannst du sie denn zur Frau machen, wo sie nicht einmal spricht?« – »Sie wird schon sprechen«, sagte er zu seinen Eltern. »Na, wie soll sie denn sprechen, wo sie schon zwei Wochen hier ist und noch nichts gesprochen hat?« Der Sohn aber sagte zu seinen Eltern: »Sie wird schon sprechen, wir wollen sie in die Kammer rufen, dann wird sie reden.« Sie riefen das Mädchen in die Kammer und fingen an zu reden. Da begann auch sie zu sprechen. Sie fragten sie: »Willst du die Braut unsres[132] Sohnes werden?« – »Ja«, sagte sie. »Nun, weshalb sprichst du denn nichts?« – »Ich stehe unter einer Anklage, ich kann nicht reden«, sagte sie, »so bin ich aus meinem Vaterhaus weggegangen.« Und sie erzählte: »Ich habe einen Oheim, seinetwegen darf ich nicht reden, denn sonst werden sie meinen Bruder töten, weil er mich vor dem Tode gerettet hat. Wenn ich jetzt zu euch komme«, sagte sie, »und ihr die Hochzeit bereitet, so ladet meinen Vater und Bruder zur Hochzeit ein; ladet auch den Oheim zur Hochzeit ein, und laßt alle drei kommen. Der Vater«, sagte sie, »kennt mich nicht mehr, weil er drei Jahre auf der Reise war, der Bruder kennt mich, aber der Oheim ist schwachsinnig, der kennt mich nicht. Auf der Hochzeit fordert mich auf, ein Märchen zu erzählen, dann erzähl' ich eins.« Sie hielten Hochzeit und luden den Vater und den Bruder und auch den Oheim dazu ein. Bei der Hochzeit aber sagte der Vater des Bräutigams: »Jetzt erzählt mal ein Märchen!« Aber keiner fing an. Da sagte die Braut: »Ich will euch eins erzählen, aber ihr dürft niemand in den Hof hineinlassen, wohl aber hinaus.« Und dann fing sie an:

»Es war einmal ein Kaufmann, der hatte eine Tochter und einen Sohn. Die waren noch klein, da starb ihnen die Mutter. Der Vater zog beide Kinder groß. Sie waren so schön, daß sich auf Erden nicht ihresgleichen fanden, und so gut. Da nahm der Vater den Sohn mit auf die See. Er war dort auf dem Meere. Der Vater hatte einen schwachsinnigen Bruder, der wohnte auf der Bodenkammer. Die Tochter des Kaufmanns brachte ihm das Essen hinauf. Da wollte sie der Alte vergewaltigen, aber sie packte ihn und warf ihn gegen die Wand. Das machte ihn so böse auf das Mädchen, daß er an ihren Vater schrieb: ›Sie bringt das ganze Haus des Kaufmanns herunter.‹ Der Vater kam von der See heim und schickte den Bruder, um sie zu töten, er gab ihm einen weißen Teller und ein Messer. Als der Bruder kam, freute sie sich und lief ihm entgegen. ›Freu dich nicht über mich, Schwesterchen.‹ Er zeigte ihr das Messer und den Teller: ›Der Vater will, daß ich dich töte.‹ – ›Brüderchen, du wirst mich doch nicht töten; töte das Schwein.‹ – ›Das kann ich nicht, Schwesterchen, das Schwein wird quieken.‹ – ›Dann töte den Hund, lieber Bruder,[133] der Hund quiekt nicht, und der Vater weiß nicht, ob das Herz von einem Hund oder einem Menschen ist.‹ Da tötete der Bruder den Hund und brachte das Herz dem Vater, und der Vater warf es ins Meer. Das Mädchen nahm die Kleider der Mutter, band sie in ein Bündel, zog seine schlechtesten Kleider an und ging fort. Sie wanderte einen Tag, einen zweiten, einen dritten, ohne zu essen, ohne einen Bissen Brot. Da erblickte sie einen Baum und sah, daß er hohl war. Sie stieg in den Baum hinein und dachte bei sich: ›Ich springe hinein, damit der Vater den Bruder nicht tötet, er darf nicht wissen, daß ich noch am Leben bin.‹«

Dann sagte sie zu ihrem Vater: »Ich bin deine Tochter«, und zu dem Bruder sagte sie: »Ich bin deine Schwester.« Da mußte der Bruder weinen, und der Vater mußte weinen. »Hier«, sagte sie, »ist mein Oheim, der hat mich aus dem Haus vertrieben. Ich bin unschuldig und habe nichts Böses getan.« Da nahmen sie den Oheim und banden ihn an einen Hengst, und der Oheim wurde geschleift. Darauf feierten sie von neuem Hochzeit, und der Kaufmann gab dem Mädchen und seinem Sohne große Reichtümer: er verteilte an beide drei Schiffe voll Hab und Gut. Und so leben sie zusammen im Wohlstand.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 130-134.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon