[143] Es lebte einmal im Lande der Bretonen ein grimmiger alter Edelmann im Schlosse zu Caerwent am Ufer eines Stromes, der in seinem Alter noch ein Weib nahm, um nicht ohne Erben sterben zu müssen. Das Weib war von hoher Art und von stolzem Leib, und mancher war in Liebe zu ihr entbrannt. Daher sperrte sie der Alte, um sie zu hüten, in einen Turm und gab ihr seine Schwester, eine grauhaarige Witwe, zur Bewachung, und so streng wachte diese über die junge Frau, daß dieselbe nicht einmal mit ihrer Bedienung plaudern durfte. Sieben Jahre lang blieb sie so einsam im Turm und verseufzte in Tränen ihre Zeit, indes ihre Schönheit langsam verblühte.
Einst im April, da der Vöglein neues Lied im Walde erscholl, erhob sich der Herr bei Tagesanbruch, um zur Jagd zu reiten. Er befahl der Alten, das Tor hinter ihm zu schließen; sie tat es und ging dann in ein Nebengemach, um ihr Frühgebet zu sprechen. Die junge Frau sah die Sonnenstrahlen durchs Fenster lachen und begann jammernd an ihre Brust zu schlagen: »Weh mir! Zum Leid bin ich geboren! Nur der Tod wird mich aus diesem Turm befreien. Ein Tor ist der alte eifersüchtige Mann, daß er mich so eingeschlossen hält, und verflucht sei meine Sippe, die mich diesem Wüterich vermählt hat. Ach, oftmals hörte ich in vergangener Zeit von Abenteuern singen, wie manches Herz heiteren Trost im Kummer fand. Da durfte die Frau ihren Liebsten heimlich schauen, kein Merker ward ihres Glücks gewahr, er blieb allen Lauschern verborgen. Ach, wenn es ein solches Wunder gibt, so laß, o Gott, auch mich es erleben!« Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als ein Schatten ins Gemach fiel, und siehe, ein Habicht flog zum engen Fensterbogen herein und ließ sich vor der Dame nieder; und sogleich entwand sich ein ritterlich schöner Mann den Federn. Die Frau sah ihn erschrocken an und verhüllte bebenden Herzens ihr Haupt in den Kleidern. Der Fremde aber begrüßte sie sittsam: »Fürchte[144] dich nicht, edle Frau! Der Habicht ist von guter Art! Wenn dir das Wunder auch unerklärlich bleibt, faß dir ein Herz und schenke mir deine Liebe! Denn wisse, daß ich dieserhalb hergekommen bin. Wie lange schon hing mein sehnend Herz an dir! Kein Weib hab' ich auf Erden mehr geliebt als dich, und keines werde ich in Zukunft mehr lieben. Doch war es mir verwehrt, dich zu sehen, bis du selber mein begehrtest. Nun darf ich's, da du den Bann gebrochen hast. So nimm mich denn zu deinem Liebsten!« Als die Frau diese holden Worte vernahm, entwich ihr Schreck. Sie faßte sich, enthüllte ihr Haupt und sprach: »Wenn Ihr ein Christ seid, will ich Euch gerne bei mir sehen!« Er stand so herrlich vor ihr, ein Mann, wie sie noch keinen sah. »Du redest recht,« sagte der Ritter, »ich möchte um keinen Preis der Welt, daß du um meinetwillen in deinem Herzen einen Argwohn trügest. Ich glaube an Gott, der uns von Adams Sünde erlöste, und wenn du mir nicht glauben willst, so rufe den Kaplan, daß er mir den Leib des Herrn reiche!« Dann legte sich der Ritter zu ihr aufs Lager, und als sie genug geplaudert hatten und des Lachens und Spielens müde geworden waren, reichte er ihr die Hand zum Abschied: »Nun fahr' ich in mein Heimatland!« Sie bat ihn, daß er oftmals wiederkehren möge. »Zu jeder Stunde,« sprach der Ritter, »werde ich wiederkommen, wann es dir gefällt. Du aber sorge, daß niemand unser Tun erspäht! Hüte dich vor der Alten, denn sie wird Tag und Nacht lauern. Entdeckt sie unseren Liebesbund, so erfährt dein Gatte alles. Wenn ihr das gelingt, so ist mir der Tod gewiß.« Der Ritter ging, und die eingeschlossene Frau blieb in großem Glück zurück. Sie sprang am Morgen gesund und sorgenfrei vom Bett, pflegte emsig ihr Gesicht und ihren Leib, und ihre frühere Schönheit kehrte zurück. Nun dünkte sie es sanfter hier zu leben, als draußen Freuden nachzujagen, denn sooft sie es wünschte, erschien ihr Ritter, mit dem sie sich selig vereinte. Sobald ihr Zwingherr sie verließ, tagte ihr heimliches Liebesfest. Durch ihres Herzens Heiterkeit wandelte sich alsbald ihr ganzes Aussehen und Gebaren, und der erfahrene[145] Greis nahm diese Veränderung mit Mißtrauen wahr. »Steh' mir Rede!« herrschte er seine Schwester an, »mich wundert, daß mein Weib so geputzt einhergeht. Was bedeutet das?« »Ich weiß es nicht,« entgegnete diese, »keine Seele kann ihr nahen, es ist unmöglich, daß sie einen Liebsten empfängt. Nur merke ich, daß sie jetzt öfter gern allein bleibt, als sie es früher zu tun pflegte.« »Wohlan,« sprach der Alte, »so schaff uns Licht! Sobald du sie morgens früh wach siehst, tust du, als gingest du aus dem Gemach. Erspähe dann von geheimer Stätte aus, woher es kommt, daß sie so froh ist.« Drei Tage darauf rüstete sich der Herr zu einer Fahrt und sprach: »Ich muß zum König, der mich eilends an seinen Hof berief, doch will ich nicht zu lange ausbleiben.« Er ging und verschloß das Haus, indes sich die Alte leise hinter einem Vorhang verbarg, von wo aus sie alles übersehen konnte, was im Schlafgemach vorging. Kaum war die Dame erwacht, so dachte sie auch schon mit Sehnsucht ihres Geliebten, und gleich darauf flog ihr schöner Freund durch das Fenster zu ihr herein, und es war große Lust unter ihnen, bis die Zeit der Trennung kam, und sie wieder Abschied nehmen mußten. Das Weib hatte alles mit angesehen, und es dünkte sie fürchterlich, daß er bald Mensch, bald Vogel war. Ungesäumt meldete sie alles dem alten Ritter, der sich in der Nähe gehalten hatte. Er vernahm die Kunde mit Ingrimm und dachte auf hinterlistigen Mord. Um vor dem Gaste Frieden zu bekommen, ließ er vier starke Spieße von blankem Stahle schmieden mit scharfen Spitzen und messerglatten Schneiden. Die rammte er heimlich in die Mauer vor dem Fenster, durch das der Ritter seinen Weg zu nehmen pflegte, wenn er zur Frau geflogen kam. Schon vor Sonnenaufgang erwachte der Greis in der nächsten Nacht und gab vor, er wolle jagen. Die Alte öffnete ihm das Tor und ging dann wieder zu Bett, um bis zum Morgen zu ruhen. Nun hoffte die Arme, sich des Geliebten freuen zu können, an dem sie in inniger Liebe hing: »Käme jetzt mein Liebster zu mir, so könnte er in Muße bei mir sein!« Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als sie schon den Liebsten nahen[146] hörte. Durchs Fenster kam er hereingeflogen, in welchem die scharfen Spieße steckten, und einer von ihnen durchstach ihn, daß ihm das Blut vom Herzen strömte. Er fühlte es: das war der Todesstoß; er machte sich von den Stacheln frei, sank sterbensmatt aufs Bett, und sein Blut färbte die Linnen rot. Halb von Sinnen sah die Frau das Blut aus seiner Wunde fließen, er aber sprach: »Mein Lieb, nun ist's geschehen, was ich weissagend dir enthüllte. Um deiner Minne willen muß ich sterben, dein Lachen hat mir den Tod bereitet.« Da fiel sie vor Leid in Ohnmacht und lag lange Weile wie leblos. Er mühte sich vergebens, sie zu trösten: »Kein Klagen kann mein Schicksal wenden. Laß ab davon! Denn dir wird ein Kind entstehen, ein junger Degen, stark und kühn, der wird dich von allem Leid befreien, und Yonec sollst du ihn nennen. Er wird unser beider Not rächen und unseren Feind töten. Nun aber darf ich nicht länger säumen, das Blut entfließt rasch, ich muß fort!«
Mit stummem Gruß floh er im Schmerz, und schreiend folgte sie ihm auf den Fersen nach, durchs Fenster flog er fort, und sie sprang ihm nach, wohl zehn Ellen in die Tiefe, nur mit einem dünnen Hemdlein bekleidet. Sie folgte der Spur des Blutes, das aus seinen Wunden troff. Bald gelangte sie zu einem Bergeshang, in welchem ein Felsentor sich öffnete. Durch dieses ging die blutige Fährte, und obwohl Nacht und Grauen den Eintritt verwehrten, trat sie ohne Zaudern hinein. Sie schritt im Finstern weiter, bis sie tastend den Ausgang fand. Da lag ein wunderschönes Land vor ihr, doch mitten durch den Blumenhain zog sich ein Streif von blutigem Tau. Sie folgte diesem Schmerzenspfad, bis sie in eine Bergstadt gelangte. Ringmauern liefen um die Stadt und ihre Türme, Tore und Paläste erglühten in Silberschein. Forsten und beschilfte Gräben dehnten sich rings um die Burg, und die Haupttore deckte ein Strom, auf dem unzählige Schiffe dahinglitten. Das untere Tor war geöffnet. Die Frau trat ein und stieg, immer der Blutspur folgend, zum Palast hinauf. Kein Mensch war auf den öden Gassen zu[147] sehen; sorgenvoll trat sie ins Schloß, dessen weite Treppe vom Blute troff. Sie schritt durch eine Kammer: ein Unbekannter lag darin und schlief. Sie eilte hindurch und gelangte in ein zweites Gemach: auch hier lag ein anderer Mann im Schlaf. So drang sie in ein drittes Zimmer, und siehe, da lag von Kerzen umstrahlt auf prächtigen, blutgetränkten Decken der Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte. Das Bettgestell war ganz von Gold, und auf den Leuchtern brannten Tag und Nacht die Kerzen. Ihr Freund erkannte sie, als sie auf der Schwelle stand, mit schwankenden Knien trat sie an sein Bett und sank über ihm ohnmächtig nieder. Er fing sie auf und neigte sich zu ihr, und wie sie erwachend sich regte, versuchte er, ihr Trost einzusprechen. »Geliebte, höre mich! Um Gottes willen, geh von hinnen! Ich sterbe, noch ehe der Morgen graut: dann erhebt sich hier Jammer und Klage, und trifft man dich, so mußt du dem Lande mit Qualen meinen Tod büßen, denn es ist dem Volke bekannt, daß ich um deinetwillen sterbe. Geh und häufe nicht Angst zu meinem Schmerz!« »Nein«, rief sie verzweifelt, »lieber will ich mit dir sterben, als daß mein Gatte mich tötet!« Auch hierfür wußte er Trost: »Nimm diesen Ring und bewahre ihn gut! Er schützt dich vor dem Zorn des Alten, denn alles, was vorher geschehen, wird er durch des Ringes Kraft vergessen, auch wird er dich nicht mehr eingeschlossen halten. Nun, Liebste, nimm noch dieses Schwert und halte es gut verwahrt! Denn keinem andern soll es gehören, als unserem Sohn, wenn er zu Mannesjahren erwachsen ist. Wenn ihr einst vor meinem Grabmal steht, so gib ihm dies Schwert in die Hand und künde ihm die Wahrheit, dann wirst du sehen, was er tut.« Da sie fast unbekleidet war, umhüllte er sie mit einem Prachtgewande, dann befahl er ihr zu scheiden. Sie ging und nahm Ring und Schwert mit sich, doch noch keine halbe Meile war sie von der Stadt des Ritters entfernt, da hörte sie die Glocken dumpf erklingen und die Burg von Klagen widerhallen: da wußte sie, daß ihr Freund verschieden war. Klagend tastete sie sich mit der Hand durch das Felsentor und kam zu ihrem Manne zurück, der sie[148] von nun an in Frieden leben ließ: vergessen war, was sich begeben hatte, und kein scheltend Wort sprach er mehr zu ihr, unbewacht blieb sie fürderhin.
Ein Sohn war ihrer Liebe Frucht, der wuchs wohlbehütet auf; Yonec hieß er, und im ganzen Lande kam ihm kein anderer Jungherr gleich. Er war schön, kühn im Streite und mild bis zur Verschwendung. Als er zum Manne emporgewachsen war, erhielt er den Ritterschlag. Einst wurde das Fest St. Aarons zu Caerleon begangen, da traf bei dem alten Ritter wie gewöhnlich die Ladung ein, mit seinen Freunden und Vasallen zum Feste zu erscheinen. In prächtigem Aufzug fuhr er mit Weib und Sohn zum Königshof. Auf wohlbekannten Pfaden ritten sie, und ein Knabe wies ihnen den Weg. Nachts gelangten sie zu einem Schloß, dem keines auf Erden an Pracht glich. Ein schönes Münster war darin, in welchem fromme Klosterherren dienten; hier wurden die Reisenden beherbergt. Der Abt lud sie zu sich und bewirtete sie, und am anderen Morgen wollten sie gleich nach der Messe weiterreiten. Doch der Abt bat sie, zunächst das Kloster zu besichtigen, und sie konnten ihm seine Bitte nicht abschlagen. Der Abt geleitete sie in den Kapitelsaal. Da ragte ein hohes Grabmal von seidenen Prachtgeweben umwallt, zwanzig Leuchter brannten im Kreise und glühten in reinstem Goldesglanz. Amethystene Rauchfässer durchwürzten Tag und Nacht die Luft an diesem wunderbaren Monument. Die Gäste wollten Kunde haben, wer hier so prunkvoll begraben liege und fragten die Klosterleute nach der Bedeutung dieses Pompes. Da weinten alle in der Runde und sprachen unter Tränen: »Hier liegt ein hochberühmter Held, der stärkste und beste, den die Welt gesehen. Er war König dieses Landes und fand in Caerwent um eine Frau den Tod. Noch steht sein Thron verwaist, denn er befahl uns, seinen Sohn, den ihm die fremde Frau gebar, zu wählen, und sein harren wir seit langer Zeit.« Da schrie die Frau vor Schmerz auf und wandte sich an Yonec: »Hast du's gehört, mein Sohn? Gott schickte uns hierher. Es ist dein Vater, der hier ruht. Er starb von dieses[149] Alten Zorn. Nimm hier dies gute Schwert, das ich dir lange aufbewahrte!« Nachdem sie alles getreulich erzählt hatte, wie sie mit dem Ritter sich vereinigt hatte, wie er kam und wie er schied, und wie der Alte ihn ermordet hatte, da sank sie im Schmerz auf das Grab, und ihr Mund verstummte für ewig. Als Yonec sah, daß sie tot war, hieb er mit einem Schwertstreich dem Alten den Kopf vom Rumpfe und rächte mit diesem Schlag seiner Eltern Tod. Da wurde Yonec als König des Landes auf den Thron erhoben, die Leiche der Frau aber wurde in einem prächtigen Sarge neben ihrem Liebsten bestattet. Gott wolle ihren Seelen gnädig sein!
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