[150] Einst wohnten im Bretonenland zwei ritterliche Nachbarn, welche beide vermählt waren, und dem einen dieser Herrn gebar sein Weib Zwillinge. Der Vater ließ alsbald diese frohe Kunde seinem Freunde und Nachbarn zukommen und bat ihn, Pate des Söhnleins zu werden. Der Ritter saß gerade bei der Tafel, als der Bote kam, um sich des Auftrags seines Herrn zu entledigen. Der Graf dankte dem Boten und schenkte ihm ein Roß als Botenlohn; seine Gattin aber, welche ein falsches und neidisches Weib war, lächelte spöttisch und sprach: »Bei Gott, mich wundert, daß der gute Mann Euch Botschaft sendet, wie sein Haus beschimpft wurde. Weiß doch jedermann, daß ein Weib, welches seinem Manne die Treue hält, niemals Zwillinge gebärt.« Zwar tadelte ihr Mann ihre unüberlegten Worte, doch die Rede wurde von vielen gehört und weit im Bretonenlande verbreitet; auch der Ritter, dem die Zwillinge geboren waren, erfuhr davon, er faßte Argwohn gegen sein Weib und hielt sie seitdem in strengem Gewahrsam.
Auch für die, welche das schlimme Wort gesprochen hatte, kam alsbald die Stunde der Entbindung, und es geschah, daß sie zweier Mägdlein genas. Da jammerte sie und rief: »Wehe! Mein Hochmut kommt zu tiefem Fall! Wie soll mein Herr von meiner Ehre denken, da ich sagte, daß eine Frau[150] niemals Zwillinge gebären könne, die nicht Untreue gegen ihren Gemahl beging. Nun kehrt mein Wort auf mich selbst zurück. Soll ich nicht ewig geschändet sein, so muß eines der Kinder sterben, lieber will ich am jüngsten Tage den Mord büßen, als daß ich hienieden Hohn und Schimpf trage!« Die Lieblingszofe der Dame aber sprach zu ihr: »Wollt Ihr mir eines der Kinder geben, so will ich Euch von der Last befreien, niemand soll Euch schmähen und nie sollt Ihr Euer Kind wiedersehen; ich will es vor einem Münster aussetzen, dort mag es ein wackerer Mann finden und aufziehen.« Darauf hüllten sie das Kind in Linnen und schoben es in einen kostbaren türkischen Teppich; die Mutter aber knüpfte ihm einen edelsteingeschmückten Goldreif um den Arm, damit seine edle Herkunft offenbar würde. Als die Welt in tiefer Nacht lag, eilte die Zofe in die nächste Stadt, und unfern des Tores gewahrte sie die Kirche eines Frauenklosters. Dorthin eilte sie, legte das Kind in das Laub einer Esche, die das Tor überschattete und stellte es der Hut Gottes anheim. Als die Zeit der Frühmesse gekommen war, erhob sich der Pförtner, entzündete die Lampen und zog den Glockenstrang. Dann öffnete er das Tor und gewahrte einen bunten Schimmer im Eschenlaub, er tastete hin und fand das Mägdlein. Eilends trug er den Fund seiner Tochter zu, deren Gatte jüngst verstorben war, und die einen Säugling ernährte. Diese behielt das Kind und pflegte und wartete es, aber an Ring und Teppich sahen sie, daß es von edler Art war. Die Äbtissin selber trug das Mägdlein, das sie als Nichte annahm, zur Taufe, und da man es unter einer Esche gefunden hatte, so nannte man es Frene.1 Das Kind wuchs im Kloster auf und wurde lieblich von Angesicht und Gebärden, wohlgestaltet und rein von Sitten, und wer die Jungfrau erblickte, nannte sie den Preis der Frauen.
In der Stadt Dol lebte ein tapferer Ritter mit Namen Gurun. Dieser vernahm vom Lobe Frenens, und heiße Sehnsucht befiehl ihn. Als er einst von einem Turnier zurückkehrte,[151] stieg er bei der Äbtissin ab und ließ sich die Vielgepriesene zeigen. Er fand sie so schön und klug, daß er glaubte, vergehen zu müssen, wenn er nicht ihre Huld erwerben könne. Er schenkte dem Kloster Ländereien und erwarb sich dadurch das Recht, häufiger dort einzukehren. Schließlich gelang es ihm, die Scheu der Jungfrau zu besiegen und er sprach zu ihr: »Glaubst du dem Zorn der Äbtissin zu entrinnen, wenn sie erfährt, daß wir uns lieben? Folge meinem Wort und flieh bei Zeiten mit mir! Gott weiß, daß ich dich nicht berücken will, sondern dich lieben und treu besorgen.« Sie folgte ihm ohne Widerstreben, und sie flohen nach seinem Schloß; nur den Teppich und den Ring, ihre einzige Habe, nahm sie mit. Der Ritter liebte sie und hing an ihr mit Seele und Leib, und das Hausgesinde ehrte sie, weil sie auch mit dem Geringsten freundlich war. Die Vasallen aber hofften schon lange auf einen Erben ihres Herrn, der einst nach ihm Zucht und Recht bewahren und sein erlauchtes Geschlecht erhalten sollte, sie hielten ihm vor, daß es ihm übel ausgelegt werden würde, wenn er um seines Liebchens willen keinen rechtmäßigen Erben zeugen wolle und drohten ihm, sie hielten sich aller Pflicht für ledig, wenn er sich dem Willen des Landes widersetze. Der Ritter mußte sich also fügen. »So ratet,« sprach er, »welche ich nehmen soll!« »Herr,« antworteten die Vasallen, »wir sprachen schon mit einem mächtigen Grafen, der ein Töchterlein zur alleinigen Erbin hat. Ihr Name ist Coudre,2 und keine schönere lebt im ganzen Lande. Laßt die Esche stehen und nehmt der Hasel guten Kern, nie hat eine Esche Frucht getragen.« Die Sache wurde durch die Vasallen ausgemacht, man drängte die arme Frene zur Seite, um der reichen Erbin Platz zu machen. Die treue Maid murrte nicht, still diente sie dem Geliebten weiter und ehrte sein Volk mit Gruß und Wort. Das Gesinde aber grämte sich, daß es die huldreiche Herrin verlieren sollte. Der Hochzeitstag wurde mit Pracht gerüstet, und es gab prunkvolle Feste und große Lustbarkeit. Frene ging geschäftig hin und her; wenn[152] auch weinend in stummer Pein, zeigte sie doch nach außen weder Gram noch Groll und diente den Gästen mit Sorgfalt. Diese hatten Mitleid mit dem Fräulein, und selbst die Mutter der Braut, die gefürchtet hatte, der Ritter möchte es ihretwegen seinem Weibe gegenüber an der rechten Liebe fehlen lassen, lobte ihr Tun im stillen und fühlte Erbarmen mit ihr: »Ach, daß um meines Kindes willen dich Arme das Glück fliehen muß! Wüßt ich doch Rat, ich hülf dir gern!« Abends ging Frene ins Schlafgemach, um dem jungen Paar das Hochzeitsbett zu rüsten. Sie warf den Mantel ab und wies dem Kämmerer, wie es ihr Herr am liebsten hätte. Als die Decke übergezogen werden sollte, sah sie, daß dieselbe alt und verblichen war, geschwind lief sie daher zu ihrem Schrein, holte ihren Teppich und breitete ihn über des Brautlagers Kissen. Nachdem der Erzbischof die Stätte geweiht hatte, trat die Mutter mit der Braut ein, um ihre Tochter ins Hochzeitslager zu betten. Da bemerkte die Frau den bunten Teppich, der vom Lager niederwallte, und erkannte den Stoff, in den sie einst ihr Kind gewickelt hatte. Reue und Gram ergriff sie, und sie fragte den Kämmerling: »Sag mir bei deiner Treue, woher kommt dieser Teppich?« »Das Fräulein,« erwiderte jener, »hat ihn mitgebracht, ihm wird er gehören.« Die Dame rief nun Frene, und diese nahte ihr bescheiden und legte höflich den Mantel ab. Die Dame fragte sie hastig: »Verhehlt mir nichts, mein Kind! Woher ist dieser Teppich?« Darauf entgegnete das Fräulein: »Herrin, meine Muhme, die mich in jungen Jahren aufzog, gab ihn mir. Sie sprach, ich solle ihn treu bewahren, ebenso wie ein Ringlein, das mir von denen, die mich zu ihr sandten, mitgegeben wurde.« »Kann ich den Ring sehen, Kind?« Schnell war sie mit dem Reiflein wieder da, und als die Frau das Kleinod erblickte, da war ihr letzter Zweifel geschwunden: »So sag ich's denn, und alle Welt mag es vernehmen: du bist mein Kind, das ich verlor!« Vor Freude schwanden ihr die Sinne, und als sie wieder zu sich kam, schickte sie sogleich nach ihrem Herrn. Sie fiel ihm zu Füßen und rief, indem sie seine Knie umklammert hielt:[153] »Vergebt mir, Herr, was ich verbrach!« Er wußte den Sinn ihrer Worte nicht zu deuten: »Was soll das, liebe Frau? Wir lebten immer friedlich! So sagt mir doch, was Euch bedrückt, ich vergebe es Euch im voraus!« »Da Ihr meine Sünde verziehen habt, so will ich Euch alles verkünden!« Und sie erzählte ihm ihre Missetat und schloß mit den Worten: »Hier seht Ihr Ring und Teppich liegen; wißt, daß ich mein Kind wiederfand, das meine Torheit einst dem Elend überließ. Hier steht sie vor Euch, die arme Maid, getreu wie Gold, die von dem Ritter, der heute ihre Schwester gefreit hat, in großen Kummer kam.« Der Vater sprach: »Kein Freudentag kam diesem gleich, der uns aufs neue dies Kind bescherte, bevor wir unsere Schuld verdoppelten. Komm, Tochter!« Da ward ihr Antlitz vor Seligkeit rot, und der Vater und der Erzbischof geleiteten sie zu Herrn Gurun, der sich aus Herzensgrunde über diese Nachricht freute. Der Erzbischof aber schied die Neuvermählten, und Herrn Gurun ward sein treues Lieb zum Weib gegeben, der der Vater die Hälfte seines Gutes schenkte. Er und die Mutter blieben zur Hochzeit, und auf dem Heimweg ritt Coudre wieder mit ihnen, der ein vornehmer Nachbar als Gatte erwählt wurde.
Buchempfehlung
Die vordergründig glückliche Ehe von Albertine und Fridolin verbirgt die ungestillten erotischen Begierden der beiden Partner, die sich in nächtlichen Eskapaden entladen. Schnitzlers Ergriffenheit von der Triebnatur des Menschen begleitet ihn seit seiner frühen Bekanntschaft mit Sigmund Freud, dessen Lehre er in seinem Werk literarisch spiegelt. Die Traumnovelle wurde 1999 unter dem Titel »Eyes Wide Shut« von Stanley Kubrick verfilmt.
64 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro