Nachwort

[319] Ich glaubte, den ehrenvollen Auftrag meines verehrten Lehrers, Herrn Professor Dr. v.d. Leyen, für seine Sammlung der »Märchen der Weltliteratur« den französischen Band zu übernehmen, um so eher annehmen zu dürfen, als mich meine Studien schon mehrfach auf diesen von der deutschen Forschung bisher noch sehr stiefmütterlich behandelten Teil der Romanistik geführt hatten. Auch für uns Deutsche ist die Erforschung des Märchenschatzes unserer Nachbarländer wertvoll, erkennen wir doch erst durch die Vergleichung mit dem fremden Gut, welchen Anteil wir als unser Eigentum beanspruchen dürfen.

Mit Ausnahme der Märchen Perraults, die in mehreren und zum Teil recht guten Übersetzungen vorliegen, blieb das französische Märchen weiten Kreisen in Deutschland bisher ganz unbekannt, wenn auch Charles Marelle in »Herrigs Archiv« mehrere Aufsätze darüber veröffentlichte und der gelehrte Reinhold Köhler verschiedene neu erscheinende romanische Sammlungen mit seinen wertvollen Anmerkungen versah. Wilhelm Schefflers »Französische Volksdichtung« erschien Leipzig 1884, das Werk ist in der Hauptsache dem Volkslied gewidmet; in seinem Abschnitt über das Märchen benutzt es gewissenhaft die damals vorliegende Literatur, ohne jedoch mehr als einen knapp gehaltenen Querschnitt durch den französischen Märchenschatz zu geben. Nennenswerte Nachfolge hatte diese Arbeit nicht; wenn man von Einzelabhandlungen, die hie und da das französische Märchen streiften, absieht, so wäre erst wieder Blümmls Sammlung: »Schwänke und Schnurren des französischen Bauernvolkes« (1906) zu nennen. Diese Sammlung behandelt nur ein begrenztes Gebiet und läßt die rechte Auswahl vermissen. 1912 bis 1918 erschienen dann Boltes Anmerkungen zu den Grimmschen Märchen, jenes Kompendium der Märchenforschung, dem, wie jeder andere Folklorist, so auch der Erforscher der romanischen Volkskunde zu höchstem Danke verpflichtet ist.[320]

Geläufiger ist dem deutschen Leser die französische Literatur vor Perrault, soweit sie auf Stoffe der Volksüberlieferung zurückgeht. Rabelais ist uns längst durch Gottlob Regis' treffliche Übersetzung vertraut geworden, und die Versnovellen haben in Wilhelm Hertz einen kongenialen Meister gefunden. Die Proben altfranzösischer Literatur freilich, die A.v. Keller in seinen »Altfranzösischen Sagen« (1878) gab, sind wegen ihres pedantischen Stils für unsern Geschmack kaum mehr erträglich.

Bei der Auswahl der modernen Märchen ließ ich mich von dem Grundsatz leiten, möglichst jeden Landesteil Frankreichs und möglichst jeden Märchentypus mit mindestens je einem Vertreter zu Worte kommen zu lassen. Natürlich sollten nur immer die charakteristischsten Proben Aufnahme finden, und so kommt es, daß die eine Provinz reicher, die andere spärlicher vertreten ist. Unter französischen Märchen wäre freilich auch das wallonische, das westschweizerische und das von französischen Kolonisten in Kanada erzählte zu verstehen, ich glaubte aber besser zu tun, meine Arbeit auf den durch die politischen Grenzen Frankreichs (vor 1918) abgesteckten Raum zu beschränken, dafür aber die Märchen zweier in diesem Territorium wohnender Völker nicht romanischer Zunge reden zu lassen: die der iberischen Basken und der keltischen Bretonen, von denen zumal die letzteren, keine Reste der gallischen Urbevölkerung, sondern von den Angelsachsen verdrängte Inselkelten, durch die Erhaltung von Trümmern des reichen keltischen Sagengutes einen gewaltigen Einfluß auf die gesamte literarische Entwicklung Mitteleuropas ausgeübt haben. Da die Nordküste der bretonischen Halbinsel in Sprache und Kultur romanisiert ist, so empfahl sich eine Zweiteilung dieser Provinz auch in unserer Sammlung.

Was die zeitliche Begrenzung anlangt, so sollte ein Überblick über die gesamte Entwicklung des französischen Märchens gegeben werden, das Mittelalter durfte also nicht fehlen, Perrault bezeichnet nicht die Geburt, sondern nur die Wiedergeburt[321] des Märchens, er und seine Nachahmer stehen ihm sentimental im Sinne Schillers gegenüber, während die Chanson de geste naiv ist.

Eine stoffliche Begrenzung auf das Zaubermärchen war im Hinblick auf die Eigenart des französischen Märchens nicht denkbar, gerade der Schwank und die Legende liegen dem Volksgeschmack der Galloromanen näher als die Wundergeschichten. Manche Derbheiten ließen sich dabei nicht vermeiden.

Die Übersetzung ist wörtlich überall da, wo es sich um eine wortgetreue Wiedergabe der Volkserzählung durch den Sammler handelt, leider merkt man ja vielen Stücken (Beauvois, du Méril, Souvestre, wohl auch Bladé) allzu sehr die glättende Hand des Bearbeiters an. Für die Proben aus dem Mittelalter konnte dagegen eine Wort für Wort vorgehende Übersetzung nicht in Frage kommen, die vielen stereotypen Formeln der altfranzösischen Epik wären zu ermüdend. Hier liegt das Interesse im Stoff, zum Studium des Stils der mittelalterlichen Dichtung stehen andere Hilfsmittel zur Verfügung.

Die gesamte benutzte Literatur wurde von der bayrischen Staatsbibliothek in München geliefert.

Wörnsmühle bei Miesbach, Februar 1922

Ernst Tegethoff

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CCCXIX319-CCCXXII322.
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