[67] 12. Vom Mordmesser, dem Wetzstein der Geduld und der Kerze, die nicht schmilzt.

[67] Es war einmal ein reicher Mann, der hatte eine Tochter, die oft am Fenster saß und stickte. Als sie eines Tags wieder am Fenster saß, flog ein Vogel an ihr vorüber und rief: »Was stickst du in Silber und Gold, du wirst ja doch nur einen toten Mann bekommen!« Das verdroß das Mädchen sehr, und sie ging weinend zu ihrem Vater und sagte ihm, was ihr der Vogel zugerufen. Der aber machte kein großes Aufheben davon und sagte: »Es ist eben ein Vogel, laß ihn schwatzen!« Das geschah aber nicht blos einmal, sondern mehrmals, und so oft der Vogel vorüber flog, rief er ihr dasselbe zu.

Als sich eines Tags das Mädchen mit seinen Gespielinnen im Freien vergnügte, wurde es vom Regen überfallen. Da lief es nach einem Hause, welches in der Nähe lag, und stellte sich unter das Vordach. Während es nun so stand und wartete, ging plötzlich die Haustür auf, und das Mädchen trat in's Haus, um sich ein bischen darin umzusehen. Kaum war es aber eingetreten, so ging die Tür wiederum zu. Das Mädchen ließ sich dadurch nicht irre machen und lief von einem Zimmer zum andern, bis es in ein Gemach kam, wo ein toter Prinz lag, welcher einen Zettel in der Hand hatte, auf dem geschrieben stand: »Wer hierher kommt und bei mir drei Wochen, drei Tage und drei Stunden, ohne zu schlafen, Wache hält, der wird mich zum Leben erwecken, und wenn es ein Mann ist, so mach' ich ihn zu meinem Minister, und wenn es eine Frau ist, so nehm' ich sie zum Weibe.«

Als das Mädchen diesen Zettel las, gedachte sie der Worte, die der Vogel ihr zugerufen, und beschloß den[68] Prinzen zu erlösen. Sie wachte auch wirklich drei Wochen und drei Tage bei ihm, ohne zu schlafen, da konnte sie sich aber vor Müdigkeit kaum mehr halten. Sie öffnete also das Fenster, um frische Luft zu schöpfen, und sah eine Zigeunerin darunter stehn; die ließ sie durch das Fenster zu sich kommen und sprach: »Wache du zwei Stunden hier, ich muß ein bischen schlafen, und wecke mich nach zwei Stunden.« Diese war es zufrieden, und das Mädchen legte sich schlafen.

Die Zigeunerin weckte sie aber nicht, sondern wachte allein die drei Stunden durch, und als der Prinz aufwachte, sagte er zu ihr: »Du bist meine Frau!« Darauf sprach die Zigeunerin zum Prinzen: »Nimm das Mädchen, welches hier schläft, und laß sie die Gänse hüten«, und der Prinz, um seiner Braut gefällig zu sein, tat das Mädchen zu den Gänsen.

Eines Tages bekam der Prinz Lust in den Krieg zu ziehen. Er rief also seine Frau und fragte sie, was er ihr mitbringen solle, und sie bestellte sich einen goldenen Anzug. Darauf rief er auch der Gänsehirtin, und fragte sie: »was willst du, daß ich dir mitbringe?« Und diese sagte: »ich wünsche mir das Mordmesser, den Wetzstein der Geduld und die Kerze, die nicht schmilzt, und wenn du mir das nicht mitbringst, so soll dein Pferd nicht von der Stelle gehn.«

Drauf zog der Prinz in den Krieg und trieb die Feinde zu Paaren, und als er nach Hause wollte, kaufte er für seine Frau einen goldenen Anzug, vergaß aber das, was die Gänsehirtin für sich bestellt hatte. Und als er nun heim reiten wollte, da brachte er sein Pferd nicht von der Stelle. Wie er so drauf saß und nachdachte, was das wohl bedeute, da fiel ihm ein, was er der Gänsehirtin versprochen hatte. Er ging also auf den Markt und[69] fragte nach dem Mordmesser, dem Wetzstein der Geduld und der Kerze, die nicht schmilzt. Nachdem er lange vergeblich herumgegangen, fand er endlich Alles in einer kleinen Bude bei einem alten Kaufmann, und der fragte ihn: »für wen kaufst du diese Sachen?«

»Für meine Magd«, erwiderte der Prinz.

»Nun, dann gieb Acht, was sie damit anfängt, wenn du es ihr giebst!«

Drauf zog der Prinz heim und gab seiner Frau den goldenen Anzug und der Gänsehirtin das Messer, den Wetzstein und die Kerze. Diese trug die Sachen in ihre Hütte und schloß sich ein. Der Prinz aber schlich ihr nach um zu sehen, was sie damit anfange.

Das Mädchen setzte den Wetzstein der Geduld auf die Erde, legte das Mordmesser darauf, und steckte die Kerze an, die nicht schmilzt, und fing dann an zu sprechen: »Mordmesser, warum liegst du so ruhig da, warum stehst du nicht auf und schneidest mir den Hals ab?« – Da erhob sich das Messer, um ihr den Hals abzuschneiden, aber der Wetzstein der Geduld zog es zurück, und wie sich das Messer erhob, da brannte auch die Kerze, die nicht schmilzt, so düster, als ob sie erlöschen wolle, und das Mädchen fuhr fort: »Ich war ein Fräulein aus gutem Hause, und als ich am Fenster stickte, rief mir ein Vogel zu: warum stickst du in Gold und Silber, du bekömmst ja doch nur einen toten Mann. Ich aber glaubte es nicht. – Mordmesser, warum liegst du so ruhig da? warum stehst du nicht auf und schneidest mir den Hals ab?« – Da erhob sich das Messer gegen sie, und der Wetzstein zog es zurück.

»Eines Tages vergnügte ich mich mit meinen Gespielinnen im Freien; da überfiel uns ein Regen, und ich stellte mich unter die Tür dieses Schlosses um den Regen[70] abzuwarten. – Mordmesser, warum liegst du so ruhig da? warum stehst du nicht auf und schneidest mir den Hals ab?« – Da erhob sich das Messer gegen sie, und der Wetzstein zog es zurück. – »Drauf öffnete sich die Türe und zog mich hinein; ich ging durch viele Zimmer, kam in das Gemach des Prinzen, sah den Zettel, den er in der Hand hielt, und las ihn. – Mordmesser, warum liegst du so ruhig da? warum stehst du nicht auf und schneidest mir den Hals ab?« – Da erhob sich das Messer gegen sie, und der Wetzstein zog es zurück. – »Und ich wachte bei ihm drei Wochen und drei Tage; da ging die Zigeunerin, die er jetzt zur Frau hat, unter dem Fenster vorüber, und ich rief sie herauf und sagte ihr, sie solle zwei Stunden wachen; sie wachte aber drei Stunden ohne mich aufzuwecken. Und darum nahm sie der Prinz zur Frau und machte mich zur Gänsehirtin. – Mordmesser, wie kannst du es mit ansehen, daß ich drei Wochen gewacht und Gänsehirtin geworden bin, während die Zigeunerin nur drei Stunden wachte, und Prinzessin geworden ist? – Und du zauderst noch, Mordmesser?«

Da erhob sich das Messer sehr hoch gegen sie, der Wetzstein konnte es nicht mehr zurückhalten, und die Kerze verlosch ganz und gar. Der Prinz aber, der das Alles gehört hatte, fing an zu schluchzen, stieß die Tür ein, und ergriff das Messer grade wie es auf das Mädchen losstechen wollte, führte die Gänsehirtin in sein Schloß, machte sie zu seiner Frau und ließ die Zigeunerin an ihrer Statt die Gänse hüten.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 67-71.
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