[173] 30. Gilt Recht oder Unrecht?

Es waren einmal zwei Brüder, die stritten mit einander, was die Welt regiere, das Recht oder das Unrecht. Der jüngere Bruder behauptete, daß das Recht, der ältere aber, daß das Unrecht regiere, und darüber ward der jüngere so hitzig, daß er zu dem älteren sprach: »weißt du was, wir wollen wetten, und der Erzbischof soll entscheiden, und wenn das Recht regiert, so darf ich dir die Augen ausstechen, wenn aber das Unrecht regiert, so darfst du mir die Augen ausstechen.« Der ältere nahm die Wette an und sie machten sich auf, um den Erzbischof zu fragen.

Unterwegs begegneten sie einem alten Manne und sagten zu ihm: »höre, Alter, wir wollen dich etwas fragen«, und dieser versetzte: »wenn ihr mich fragt, so will ich euch antworten.« Da fragten sie ihn: »was regiert die Welt, das Recht oder das Unrecht?« und der Alte sprach: »das Unrecht, liebe Kinder.« »Hörst du, Kleiner?« sprach der ältere Bruder, »nun laß dir die Augen ausstechen!« Der jüngere aber antwortete: »es war ausgemacht, daß der Erzbischof und nicht dieser Alte entscheiden solle.«[173]

Sie gingen also weiter und begegneten einem Klosterbruder, zu dem sprachen sie: »Klosterbruder! wir wollen dich etwas fragen«, und dieser versetzte: »wenn ihr mich fragt, so werde ich euch antworten.« Da sprachen sie: »sage uns, was in der Welt regiert, das Recht oder das Unrecht?« und der antwortete: »das Unrecht.« Da rief der ältere Bruder: »hörst du, Kleiner? nun komm her und laß dir die Augen ausstechen«; der jüngere aber entgegnete: »der Erzbischof hat zu entscheiden und niemand anders.«

Sie kamen darauf zum Erzbischof, verbeugten sich und sprachen: »was regiert in der Welt, o Herr! das Recht oder das Unrecht?« und der Erzbischof antwortete: »das Unrecht.« Darauf sagte der ältere zu dem jüngeren: »nun steh still, damit ich dir die Augen ausstechen kann«, und dieser sprach: »wir wollen bis zu jenem Brunnen gehen, damit ich bei diesem sitzen und von den Leuten Brot betteln kann, um nicht Hungers zu sterben.« Da gingen sie zusammen zu dem Brunnen, bei dem ein großer Platanenbaum stand, und dort stach der Ältere dem Jüngeren die Augen aus und ging dann seiner Wege.

Als nun der Jüngere eine Zeitlang dort gesessen hatte, wurde er sehr hungrig und sprach bei sich: »ehe ich Hungers sterbe, will ich lieber auf den Baum steigen und Blätter essen.« Während er nun oben auf dem Baume saß und von dessen Blättern aß, wurde es Nacht, und da versammelten sich unter dem Baume eine Menge Teufel, und der älteste Teufel fragte den jüngsten: »was hast du heute vollbracht?« »Ich habe zwei Brüder verhetzt, von denen der eine behauptete, daß das Unrecht, der andere aber, daß das Recht in der Welt regiere, und habe den älteren so böse gemacht, daß er dem jüngeren die Augen ausgestochen hat.« Darauf fragte der alte[174] Teufel den zweitjüngsten: »und was hast du angestiftet?« und dieser erwiderte: »ich habe zwei andere Brüder verhetzt, die früher einig waren, daß sie sich um einen Weinstock stritten, der beiden zusammen gehörte, und habe ihnen die Axt weggenommen, damit sie den Weinstock nicht abhauen können, und hoffe, daß sie morgen einander totschlagen werden.« Darauf fragte der Alte den dritten Teufel, was er vollbracht habe, und der antwortete: »ich habe das Kind im Leibe der Königin verkehrt gelegt, damit sie nicht gebären kann und sterben muß.« Da kam die Reihe an den vierten Teufel, der lahm war, und als den der Alte nach seinem Tagwerke fragte, antwortete er: »ich habe nichts getan.« Da packten ihn die andern und schlugen ihn, und darüber wurde der so zornig, daß er rief: »nun wollte ich, daß der Mann, der seine Augen verloren hat, hierher käme und von dieser Asche nähme, und mit ihr und diesem Quellwasser seine Augen wüsche, damit er wieder sehend würde. Nun wollte ich, daß jene Brüder hierher kämen und sich die Axt holten, und den Weinstock umhieben. Nun wollte ich, daß die Königin herkäme und von diesem Wasser tränke, damit sie gebären könnte und leben bliebe.« Da krähte der weiße Hahn, und alsbald rüsteten sich die Teufel zum Abzug, darauf krähte der schwarze Hahn, und nun gingen sie auseinander, und indem fing es an zu tagen.

Der Blinde stieg nun von dem Baume, suchte nach der Asche, rieb sich mit ihr und mit dem Brunnenwasser die Augen und wurde wieder sehend; drauf füllte er seine Kürbisflasche mit dem Wasser, nahm die Axt mit, welche die Teufel hatten liegen lassen, und ging zuerst zu dem Weinstock, um den die beiden Brüder haderten, und hieb ihn um. Dann ging er zu den Brüdern und fragte sie, worüber sie mit einander haderten. Die Brüder aber[175] antworteten: »wir haben einen Weinstock, der uns zusammen gehört, und können nicht darüber einig werden, wie wir ihn teilen sollen.« Da sagte er ihnen: »der Weinstock ist umgehauen«, und sie riefen wie mit einer Stimme: »möge es dir der Himmel lohnen!« und von nun an lebten sie wieder in Eintracht.

Von da ging er zur Königin und klopfte an die Haustüre. Die Diener des Königs wollten ihn nicht einlassen; er bestand jedoch darauf, daß er mit der Königin sprechen müsse, und zankte sich mit den Dienern so lange, bis der König den Lärm hörte und ihn einzulassen befahl. Als der Bettler vor ihn gebracht wurde, fragte er ihn: »weißt du etwa ein Mittel für die Königin?« und dieser antwortete: »ja, ich weiß eins, und habe es bei mir, und brauche nichts weiter als ein Glas Wasser.« Nachdem man ihm dies gebracht hatte, schüttete er die Hälfte aus und goß dafür das Brunnenwasser hinein, das er bei sich trug, und kaum hatte die Königin das Wasser getrunken, so genas sie von einem Söhnchen.

Der König war darüber so erfreut, daß er den Arzt mit kostbaren Geschenken überhäufte und ihm sagte, er solle sich eine Gnade von ihm erbitten. Dieser antwortete: »meine Heimat ist nur ein kleiner Weiler, ich wünschte, daß du daraus ein schönes Dorf machen und mir darin ein stattliches Haus bauen ließest.« Da gab ihm der König soviel Goldstücke, als ein Pferd tragen kann, und sagte ihm: »nimm dieses Geld und baue dir davon das Dorf und das Haus, wie du es wünschest.«

Nach einer Weile kehrte der ältere Bruder nach Hause zurück und fragte seine Frau: »wem gehören alle diese neuen Häuser?« und sie sagte: »die gehören Niemand anders als deinem Bruder.« Da rief er: »das kann nicht sein, dem habe ich ja die Augen ausgestochen«, und[176] lief hin, um sich selbst zu überzeugen. Sein Bruder empfing ihn sehr freundlich, wies ihm den Ehrenplatz an und setzte ihm Kaffee und Süßigkeiten vor. Darauf fragte ihn der Ältere: »sage mir doch, wie du es angefangen, daß du wieder sehend wurdest und soviel Geld gewonnen hast?« Der Jünger aber antwortete: »ich habe dir immer gesagt, daß das Recht in der Welt regiert, du aber sagtest, daß das Unrecht regiere«, und kaum hatte er das gesagt, so stürzte sein Bruder zu Boden und war tot.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 173-177.
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