[181] 32. Der Sohn des Schulterblattes.

Es war einmal eine arme Wittwe, die ging in den Wald um Holz zu holen und fand ein Schulterblatt, das auf einer Felsenplatte lag. Sie nahm den Knochen, steckte ihn in ihren Gürtel und wurde davon gesegneten Leibes. Nach drei Monaten kam sie mit einem Knaben nieder, der mit vierzig Tagen lief und mit drei Jahren ein ausgewachsener Mann war.

Einst fragte er seine Mutter nach seinem Vater, und diese sagte ihm: »gehe rings um das Haus und du wirst deinen Vater finden.« Der ging um das Haus, fand aber nichts anders als einen Knochen, und als er den seiner Mutter brachte, sagte sie: »dieser Knochen ist dein Vater.« Darauf fragte er: »wo hast du den gefunden?« und sie antwortete: »ich fand ihn im Walde auf einer Felsenplatte liegen.« Darauf bat er seine Mutter so[181] lange, bis sie ihn zu der Platte führte. Das war aber eine behauene Steinplatte, und sie war so groß, daß sie die vierzig Draken nicht aufheben konnten. Er aber hob sie ganz allein. Darunter war eine Stiege, und als sie auf dieser hinabstiegen, fanden sie unten Häuser, die waren ganz von Gold gebaut und darin lagen große Schätze. Da beschlossen sie dort zu bleiben; der Sohn langweilte sich jedoch bald zu Hause und fing an herumzuschweifen. Dabei fand er einen großen Apfelbaum, der viele schöne Äpfel trug, und er stieg hinauf und aß davon nach Herzenslust. Als er so oben saß und sich wohl sein ließ, da kam die Lamia herzu, welcher der Baum gehörte, und fing ein großes Geschrei an, nannte ihn einen Apfeldieb und befahl ihm sogleich herunter zu steigen. Wie er aber so weit unten war, daß sie ihn greifen konnte, packte sie ihn und stieß ihn bis an die Knie in die Erde. Das verdroß ihn aber, und er packte die Lamia und stieß sie bis zum Sitze in die Erde. Drauf stieß ihn die Lamia bis zum Gürtel hinein, und nun nahm er alle seine Kraft zusammen und stieß die Lamia so stark auf die Erde, daß sie bis zum Halse hineinfuhr und nicht mehr herauskonnte. Drauf zog er sein Schwert und wollte ihr den Kopf abhauen; sie aber rief: »töte mich nicht, ich will dir auch meine Tochter zur Frau geben.«

Unterdessen aber hatte sich seine Mutter mit den Draken eingelassen und die beschwatzten sie, daß sie, um freie Hand mit ihnen zu haben, ihren Sohn aus dem Wege räumen solle. Sie verlangte also zuerst von ihm, daß er ihr Hasenkäse und Gemsenmilch bringen solle. Da ging er hin und stürzte einen Felsen von der Höhe, und dadurch versammelten sich alle Hasen und Gemsen, so daß er sie melken und sich Hasenkäse und Gemsenmilch verschaffen konnte.[182]

Als er das seiner Mutter brachte, sagte sie zu ihm: »gehe hin und hole das Wasser des Lebens.« Darauf ging er zur Lamia und fragte sie, wie er es anfangen solle, um das Wasser des Lebens zu holen, und diese wies ihn an, einen Sack voll Asche mitzunehmen und sie auf den Weg zu streuen, wenn er von der Quelle zurückkehre, damit ihm das Ungeheuer, das sie bewache, nicht nachlaufen und ihn verschlingen könne. Er machte es, wie ihm die Lamia gesagt hatte, als er aber auf der Rückkehr bei ihr wieder einkehrte, nahm sie ihm die Hälfte von dem Wasser des Lebens.

Darauf rieten die Draken seiner Mutter, sie solle ihn fragen, worin seine Stärke sitze, und als sie erfahren hatte, daß sie in drei goldenen Haaren seines Kopfes sitze, da riß sie ihm dieselben aus, während sie ihn lauste. Da wurde er schwach und furchtsam, und die Draken kamen herbei und schlugen ihm den Kopf ab. Den behielten sie und stellten ihn bei ihrem Spielplatze auf, den Körper aber schickten sie der Lamia. Darauf schickte diese drei Tauben zu den Draken; die eine setzte sich auf den Boden, die zweite auf den Sims des Daches und die dritte auf den First, und die Taube, welche auf dem Boden saß, packte den Kopf und trug ihn zu der, welche auf dem Sims saß, und diese zu der, welche auf dem First saß, diese aber flog damit zur Lamia. Darauf paßte sie das Haupt an den Körper und begoß es mit dem Wasser des Lebens, da wuchs er wieder an den Körper, und der Mann stand auf und war wieder gesund. Als er nun von der Lamia hörte, was mit ihm vorgegangen war, ging er nach Hause zurück, fand dort die vierzig Draken versammelt und schlug sie alle tot. Seine Mutter stand unterdessen bei dem Backofen und merkte nichts davon, und als er nach ihr rief, antwortete sie: »hier bin ich.« Darauf ergriff[183] er sie, steckte sie in die Handmühle und mahlte sie zu Brei.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 181-184.
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