[192] 35. Der kluge Schäfer.

Es war einmal ein Königssohn, der wollte sehn, wie es in seinem Reiche hergehe, und als er dazu die Erlaubnis von seinem Vater erhalten hatte, nahm er den Siegelbewahrer und andere Große mit sich, zog in Derwischkleidern durch Städte und Dörfer und fragte die Leute, wie es ihnen ginge. Eines Tags kamen sie an einer Schäferei vorbei, in der grade die Schafe gemolken wurden, und da sagte der Prinz zu seinen Begleitern: »laßt uns dorthin gehn und Milch trinken, und dabei auch die Schäfer fragen, wie es ihnen geht.« Als sie näher kamen, stürzten ihnen die Hunde entgegen und gauzten sie an: kam! kum! kam! kum! bis die Schäfer herbei kamen und sie abriefen. Darauf gingen sie in die Schäferei und fragten die Schäfer, wie es ihnen gehe; diese versetzten kurzweg: »ganz gut, wir haben nicht zu klagen.« Nachdem die Schafe gemolken und die Milch gesotten war, setzten sie sich zum Essen und luden die Fremden ein, mitzuhalten. Die setzten sich also zu ihnen und der Königssohn kam neben den Oberschäfer zu sitzen. Dieser aber legte alles Brot, was er schnitt, vor den[192] Jüngling, bis der zu lachen begann und rief: »warum legst du denn alles Brot mir vor? gieb doch auch den andern.« Da gab ihm der Hirte eine Ohrfeige und sprach: »in die fremde Speise sollst du kein Salz werfen, und in deinem eigenen Hause sollst du befehlen.« Der Prinz steckte die Ohrfeige ein, ohne etwas zu erwidern. Als aber abgegessen war, gab er sich dem Schäfer zu erkennen und sagte: »ich bin der Sohn des Königs, und für die Gastfreundschaft, die du mir erwiesen hast, will ich dir eine Schrift hinterlassen, und wenn du einmal in Not gerätst, so komme zu mir, und ich werde dir helfen.«

Als das der Schäfer hörte, ward ihm bange, und er sprach zu dem Prinzen: »verzeihe mir meine Keckheit, denn ich wußte ja nicht, wer du warst.« »Laß gut sein«, antwortete der Prinz, »es ist mir ganz Recht geschehn, was hatte ich an dem fremden Tische zu befehlen?« Darauf ließ er den Brief schreiben und der Siegelbewahrer mußte das königliche Siegel darunter drücken, und beim Abschiede sprach der Prinz zu dem Hirten: »wenn du etwas nötig hast, so komme in die Hauptstadt und bringe den Brief dem und dem Herrn, der ist mein Beamter, und der wird dich zu mir führen.«

Nach einiger Zeit kam jener Schäfer mit andern Hirten über einen Weidebezirk in Zwist und zog dabei den kürzeren. Da erinnerte er sich jenes Schreibens; er nahm es also und ging damit in die Hauptstadt, fragte dort nach jenem Herrn, und als dieser das Schreiben gelesen hatte, führte er ihn sogleich ins Königsschloß. Der Prinz hörte die Klage des Hirten an und sprach: »Sei guten Mutes! das ist eine Kleinigkeit, die wollen wir schon einrichten; aber nun komme her und iß mit mir«, denn es war grade Essenszeit. Zum Siegelbewahrer aber sagte er heimlich: »du mußt auch mit essen, denn nun habe ich[193] Gelegenheit, ihm seine Ohrfeige zurückzugeben.« Der Hirte machte Anfangs Gegenvorstellungen, daß ihm das nicht zukomme; als er aber sah, daß es nicht anders sein könnte, lehnte er seinen Schäferstab an die Wand, stieg mit seinen Sandalen auf den Diwan, und setzte sich mit gekreuzten Beinen zum Prinzen. Da fing der Prinz an das Brot aufzuschneiden, schnitt einen ganzen Haufen und legte alles auf den Platz des Schäfers. Der aber schwieg mäuschenstill und ließ ihn gewähren. Da sprach der Siegelbewahrer zu ihm: »Warum wehrst du dich denn nicht gegen all das Brot, was dir vorgeschnitten wird?« Er aber antwortete: »was habe ich an dem fremden Tische zu befehlen?« Da lachte der Prinz und sprach: »ich sehe, daß ich meine Ohrfeige nicht zurückgeben kann, und will sie also behalten.«

Zu der Zeit, als der Schäfer zu Hofe gekommen war, lag der König im Kriege mit einem benachbarten Lande. Es ging ihm dabei nicht nach Wunsch und war darüber viel Redens bei Hofe. Als der Schäfer davon hörte, bat er den Prinzen, er möge dem König sagen, daß er auch ihn in den Krieg schicken solle. Der aber antwortete: »was willst du in dem Kriege? du verstehst ja nichts davon.« Doch der Schäfer ließ nicht nach und sagte: »schicke mich nur, und ich setze meinen Kopf zum Pfande, daß ich gewinnen werde.« Da sprach der Prinz mit dem König, und dieser antwortete: »meinetwegen mag er hingehn, weil du für ihn bittest, was er aber dort nützen kann, begreife ich nicht.« Darauf verlangte der Schäfer vom König vier auserlesene Leute und fünfzig Hammel und hundert Kerzen und zog mit diesen vor die feindliche Stadt. Als es Nacht wurde, ließ er an die Hörner jedes Hammels zwei Lichter binden und dieselben anzünden und rückte so vor die Stadtmauern. Da glaubten die, welche[194] darin waren, daß ein unzählbares Heer gegen sie anrücke, und kamen heraus, um sich dem Feinde zu unterwerfen. Aber der Schäfer verweigerte ihnen alles Gehör, bevor sie ihm nicht die Schlüssel der Stadt gebracht hätten. Da gingen sie wieder zurück und holten die Schlüssel und überreichten sie ihm. Der Schäfer lief damit zum König, und als dieser die Schlüssel sah, da freute er sich sehr und fragte ihn, welche Gnade er ihm erweisen solle? Der Schäfer aber antwortete: »ich bitte, daß du mir nun den Befehl über die streitige Weide ausfertigen lassen mögest, um dessen willen ich zur Stadt gekommen bin.« Da sagte der König: »sei doch kein Narr, und bleibe hier bei uns, wo du dein gutes Essen und Trinken und keine Sorgen hast, und in hohen Ehren gehalten wirst.« Der Schäfer aber antwortete: »für ein solches Leben passe ich nicht, ich will wieder fort und sehn, was meine Schafe machen.« Da tat ihm der König den Willen, und ließ ihm den Befehl über die streitige Weide ausstellen. Mit diesem kehrte der Schäfer zu seiner Heerde zurück, nahm die streitige Weide in Besitz, und lebte glücklich und zufrieden in seiner Schäferei, ohne jemals wieder nach Hof zu gehn.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 192-195.
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