[231] 45. Der Traum des Prinzen.

[231] Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne und eines Abends sprach er zu ihnen: »hört, Kinder, heute Nacht wollen wir aufmerken auf das, was wir im Traume sehn.« Am andern Morgen fragte er zuerst den Ältesten: »was hast du geträumt?« und dieser erwiderte: »Mir träumte, daß ich die Tochter des und des Königs zur Frau nehmen würde.« Der zweite Sohn gab dieselbe Antwort. Darauf fragte der König auch den Jüngsten, »was denn er geträumt habe«, und der antwortete: »ich sage es nicht, denn ich fürchte, daß du mich hinrichten lassest, wenn du es erfährst.« Als der König das hörte, da wurde er erst recht neugierig und sprach: »ei warum denn, hast du etwa Schuld an dem, was du träumst?« und setzte ihm so lange zu, bis jener erzählte, wie ihm geträumt habe, daß sein Vater von dem Throne gestiegen sei und er sich darauf gesetzt habe. Der König aber wurde darüber sehr ärgerlich und rief: »Oh über den Bösewicht, der mich vom Throne stoßen will!« und übergab den Prinzen seinem Scharfrichter mit dem Befehle, ihn in den Wald zu führen und dort hinzurichten, und zum Beweise ihm den kleinen Finger des Prinzen und eine Schale seines Blutes zu bringen, das er trinken wolle.

Der Scharfrichter führte also den Prinzen in den Wald, als er ihn aber schlachten wollte, da bat dieser für sein Leben, doch jener antwortete: »ich kann nicht anders, denn ich soll ja dem König dein Blut bringen.« Darauf sagte der Prinz: »schneide mir den kleinen Finger ab und schlachte eine Taube und bringe das Blut dem König.« Der Scharfrichter tat, was der Prinz verlangte,[232] und brachte die Schale dem König; der trank sie aus, und so kam der Prinz mit dem Leben davon.

Drauf machte sich der Prinz auf und lief in die Welt hinein, und der Zufall führte ihn zu einem Marmorfelsen, in dessen Innerem ein Pallast mit vierzig Stuben war. Darin wohnte ein Drakos, und als der den Prinzen sah, gefiel er ihm so sehr, daß er sprach: »du mußt bei mir bleiben, ich will dich an Kindesstatt annehmen.« Der Prinz blieb also bei dem Drakos und der gab ihm die Schlüssel zu den neununddreißig Stuben, aber den zu der vierzigsten wollte er ihm nicht geben, so oft ihn auch der Prinz darum bat.

Da paßte der Prinz eines Tages, bis der Drakos eingeschlafen war, entwandte ihm den Schlüssel zur vierzigsten Stube und schloß sie auf. Darin fand er ein goldenes Roß und einen goldenen Hund, und vor dem Rosse lagen Knochen, vor dem Hunde aber Heu. Da warf der Prinz das Heu dem Rosse und die Knochen dem Hunde vor und die sagten darauf: »wie sollen wir dir den Dienst vergelten, den du uns geleistet hast?« Er antwortete: »Wir wollen mit einander fort von hier!« »So mache uns los!« versetzten sie. Da machte er sie los, und darauf sprach das Roß: »du mußt eine Hand voll Salz, einen Spiegel und einen Kamm mit auf den Weg nehmen«, und als der Prinz die drei Stücke geholt hatte, sprang er auf das Roß und ritt davon und der Hund lief neben ihm her. Wie nun der Drakos aufwachte, rief er nach dem Prinzen, und als dieser nicht kam, suchte er nach ihm und fand dabei, daß die Tür der vierzigsten Stube offen stand und auch das Roß und der Hund fort waren. Da machte er sich auf und lief was er konnte, um sie einzuholen. Als ihn der Prinz von weitem erblickte, rief er: »der Drakos kommt uns nach«,[233] und das Roß hieß ihn den Kamm hinter sich werfen. Aus diesem wurde eine unabsehbare Ebene, welche den Drakos von den Fliehenden trennte. Er verlor aber den Mut nicht und rannte durch die Ebene, so schnell er konnte. Als ihn der Prinz herankommen sah, rief er wiederum: »der Drakos kommt«, und das Roß hieß ihn den Spiegel hinter sich werfen. Aus dem entstand eine unabsehbare Eisfläche und der Drakos wurde wieder um ein großes Stück von den Fliehenden entfernt. Aber vermöge seiner großen Schnelligkeit holte er sie auch diesmal wieder ein, und als ihn der Prinz hinter sich erblickte, rief er: »der Drakos kommt.« Da hieß ihn das Roß das Salz hinter sich werfen und daraus ward ein ungeheures Meer. Als der Drakos an dasselbe kam, sprang er hinein und wollte durchwaten, aber es ging ihm bald bis an den Hals und er konnte nun nicht weiter. Da rief er dem Prinzen zu: »höre mein Sohn, wenn du mir auch entlaufen bist, so behalte ich dich doch so lieb, wie wenn du mein Sohn wärst, achte also auf meinen Rat: Auf deinem Wege wirst du einen alten Mann, ein altes Pferd und einen alten Hund begegnen. Diesen ziehe die Haut ab und stecke dich in die Haut des alten Mannes, dein Roß in die des alten Pferdes und deinen Hund in die des alten Hundes.«

Als nun der Prinz eine Weile gezogen war, fand er wirklich einen alten Mann, der saß auf einem alten Pferde und hatte einen alten Hund bei sich; und nach dem Rate des Draken zog er ihnen die Haut ab und steckte sich, das Roß und den Hund hinein.

Unterdessen hatte der Vater des Prinzen einen ungeheuern Graben machen und in der ganzen Welt verkünden lassen, daß wenn einer über diesen Graben spränge, so würde er von seinem Throne aufstehn und jenen darauf setzen,[234] wenn er aber nicht darüber käme, so solle er den Kopf verlieren. Viele hatten das Wagstück versucht, aber alle waren zu kurz gesprungen und daher hingerichtet worden, und zuletzt blieb nur noch der Prinz übrig. Da meldeten die Diener dem König, daß nur noch ein alter Mann mit einem alten Pferde und einem alten Hunde übrig sei, und fragten, ob der es auch versuchen dürfe; und als der König die Erlaubnis dazu gegeben, da sprach das Roß zu dem Prinzen: »gürte mich mit zwölf Gurten und gürte dich selbst mit zwölf Gürteln.« Wie das geschehen war, tat es den Sprung und kam glücklich über den Graben.

Darauf meldeten die Diener dem König, daß der alte Mann über den Graben gesprungen sei, und dieser antwortete: »so führt ihn her, denn wenn er darüber gesprungen ist, so soll er auf den Thron steigen.« Unterdessen hatte aber der Prinz die Häute von sich, seinem Pferde und seinem Hunde abgerissen und strahlte nun in vollem Glänze. Als er vor dem König erschien, da staunte dieser über seine Schönheit und wunderte sich, daß man ihn einen alten Mann genannt habe, doch stieg er ohne weiteres vom Throne und setzte den Prinzen darauf, und als dieser auf dem Throne saß, sprach er: »Vater, ich bin dein Sohn, erinnerst du dich nicht, daß ich einmal geträumt hatte, daß du vom Throne aufstehn und mich darauf setzen würdest? siehst du, das hat sich nun erfüllt, und betrachte auch meine Hand, an der der kleine Finger fehlt.« Als das der König hörte, traf ihn der Schlag und er fiel tot zur Erde.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 231-235.
Lizenz:
Kategorien: