[179] 31. Der Schatz an der großen Marina

Eines Abends gegen Mitternacht sah ein Fischer, der mit seiner Korallenausbeute heimkehrte, eine mit zwölf Seeleuten besetzte Barke landen. »Willst du uns einen Gefallen tun?« fragten die Schiffer.

»Gern!« antwortete er.

»Du darfst dich aber nicht fürchten!« fügten sie hinzu. »Gewiß nicht! Ich kenne die Furcht nicht«, versicherte er.

»Nun, so hole uns aus der Stadt oben einige Eßwaren und Wein! Nur ja keine Furcht zeigen und immer vorwärts schreiten!«

»Soll geschehen!« erwiderte er und stieg eiligst die alte stufenreiche Römerstraße hinauf.[179]

Da begegnete er einem schrecklich aussehenden Reiter auf einem großen Pferde. »Wohin will dieser Mann?« wurde er gefragt. »Wein und Eßwaren einkaufen«, erwiderte er.

»Gehe nicht weiter!« rief der Reiter. Aber er schritt furchtlos vorüber. Eine zweite Schreckgestalt konnte ihn ebensowenig von seinem Vorhaben zurückhalten. Zuletzt traten ihm zwei Riesen entgegen, ohne ihm bange zu machen. Oben kaufte er Wein, Brot und Fleisch und eilte damit zu den Seeleuten zurück.

»Großen Dank!« riefen sie. »Willst du als Belohnung einen großen Schatz gewinnen?«

»Warum nicht? Wo liegt er?«

»Droben in einer kleinen Höhle unterhalb St. Michele. Aber es ist sehr gefährlich hin zu gelangen. Du darfst dich vor nichts und vor niemand unterwegs fürchten!«

Der Fischer kletterte empor zur bezeichneten Stelle und rief, wie ihm befohlen: »Offne dich, Felsen!« – Dann betrat er die Grotte und erblickte zuerst zwei gewaltige Hunde mit feurigen Augen und zum Beißen geöffnetem Rachen. Mutig schritt er vorüber. Dann drohten ihm zwei schußfertig auf ihn gerichtete Kanonen und schließlich zwei furchtbare Dämonen. Nichts schreckte ihn zurück. Schon erblickte er den gewaltigen Goldschatz, als ihm noch eine Drohgestalt – der Tod mit der Sense – entgegentrat. Nun wurde er doch von entsetzlicher Angst ergriffen. Er machte das Zeichen des Kreuzes und rief: »Jesus, Maria und Joseph!« Im Nu war alles verschwunden, und er befand sich mitten im wildesten Dorngestrüpp am steilen Felsenabhang, von wo er nur unter größter Gefahr ganz zerkratzt und zerschunden heruntergelangte. Nach diesem Abenteuer hatte er drei Tage lang die Sprache verloren.

Quelle:
Zschalig, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri. Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925, S. 179-180.
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