Sprichwörter und Redensarten

[199] Wie die lehrhafte Kunstpoesie im Streben nach gehaltvoller Kürze den Spruch geprägt hat, so die Volksdichtung als gedrungenste Zusammenfassung her Volksanschauung und Erfahrung, als bündigste Satzung der Volksweisheit und Sittenlehre das Sprichwort, das sich bekanntlich schon bei den Kulturvölkern des Altertums, den Chinesen, Indern, Persern, Hebräern, Griechen, Römern und Arabern großer Beliebtheit und Verbreitung erfreute. Namentlich als Erziehungsmittel der Jugend wurden diese volkstümlichen Denkworte heilig gehalten gleich den (wohl vielfach aus ihnen hervorgegangenen?) Sprüchen der Dichter und Denker, die ihrerseits durch häufigen Gebrauch oft zu volkstümlichen Sprichwörtern wurden wie die berühmten Sprüche Khungfutses, Salomos, der sieben griechischen Weisen u.a.

Auf Bildern und Vergleichen beruhen, abgesehen von Wortspielen, die meisten Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten, wovon die Italiener, dank ihrer schon erwähnten lebhaften Einbildungskraft, ihrem kräftigen Witz und Humor einen ganz erstaunlichen Schatz aufzuweisen haben. Freilich zum großen Teil nur noch in Sammlungen und Wörterbüchern. Denn die Zeit ihrer Beliebtheit, wo man sie gern im täglichen Leben anwandte, ist auch im modernen Italien vorüber. Immerhin sind ihrer noch viele bekannt, wenigstens in Capri.

Die meisten lehren uns, gleich allen Sprichwörtern, allgemeine Erfahrungen und Wahrheiten, oder sie sind gegen häufige Laster, wie Trägheit, Trunksucht, Verschwendung, Neid, Habsucht usw. gerichtet, bald mit Warnungen, Ermahnungen, Drohungen und Verheißungen verknüpft, bald von Spott und Verachtung durchsäuert, »um die Menschen zu bessern und zu[200] bekehren«, oder, wie bereits Salomo ermahnt, »zu lernen Weisheit, Zucht, Verstand, Klugheit, Gerechtigkeit, Recht und Schlecht«. – Vielfach ist jedoch jedwede erzieherische Absicht ausgeschlossen: sie sind nur glücklich geprägte, leicht im Gedächtnis haftende und als Verkehrsmünze gebrauchte Ausdrücke und Redensarten, besonders wenn vom geschäftlichen Tun und Treiben oder vom Befinden die Rede ist.

Wenn ich zum Beispiel eine alte Korallenfrau nach dem Geschäftsgänge fragte, antwortete sie oft mit entsprechender Handbewegung nur: »Acqua a pipa!« oder »Passa la vacca!« (Wasser in der Tabakspfeife! Nichts zu machen mit der Kuh!), auch »Acqua nella gola!« oder »Acqua alla gola!« (Wasserschlucken! oder Das Wasser an der Kehle haben!).

Jägern wünscht man beim Aufbruch: »Alla gola del lupo!« (In den Wolfsrachen! wie bei uns: Hals- und Beinbruch!). – Nach einem Festgelage physischen und moralischen »Kater« haben:


»Dopo la festa, vuoto le tasche e piena la testa.«


Nach dem Feste, das toll, die Taschen leer, der Kopf voll.1


»La lingua batte, dove il dente duole«,


Die Zunge stößt an, wo der Zahn schmerzt.


wie schon bei Plautus: ubi dolet, ibi linguam.


Eine wichtige Rolle spielt natürlich das Wetter und die damit zusammenhängenden Lufterscheinungen, sowie die Bedeutung gewisser Tage und Zeitpunkte, die zu zahlreichen Kalendersprüchen und Wetterregeln Anlaß gaben:
[201]

»Gennaio sicco,

màssaro ricco.«


Trockner Jänner,

reiche Männer.


Febbraio:

»Mezzo dolce, mezzoamaro.«


Der Februar ist ein Zwitter,

halb ist er süß, halb ist er bitter.


Marzo è pazzo:

Piove, piove


Der März

treibt Scherz.

Es regnet allwärts.


Aprile:

Gentile,

dolce dormire,

uccelli a cantare

ed alberi a fiorire.


Wohl will

der April:

Liebliche Träume,

singende Vögel

und blühende Bäume.


Aprile fa il fiore,

e maggio ne ha l'onore.


April die Blumen beschert,

und Mai wird dafür geehrt.


Maggio:

Maggiore di tutti!

Anche l'asino mio

sta allegramente e raglia,

perchè viene la nuova paglia.


Der Mai

ist der größte von allen!

Auch mein Esel schreit froh:

Denn bald kommt ja das neue Stroh.


Acqua di Giugno

consuma u munno (il mondo)


Ach, bliebe die Welt nur verschont

vom Wasser im Junimond!


Agosto:

Chi Agosto non si è vestuto,

che malinverno è venuto.


Wer im August noch nicht gekleidet,

im Winter großen Mangel leidet.


[202] Settembre (mundartlich):

Come è bella la campagna,

quann è tiemp'ra velegna;

sient' oddore ra rammegna,

siente l'asino raglia.


Wie die Fluren schön doch sind,

wenn die Weinleszeit beginnt;

Grüßgrasduft die Luft erfüllt,

und vor Lust der Esel brüllt.


Rosso di mattina

apre la tina.


Morgenrot

bringt Wind oder Kot (wörtlich:

öffnet die Wasserbütte).


Rosso di sera

buon temp ammena.


Abendrot

Gut-Wetter-Bot'.


Beim Regenwetter heißt es ein Obdach suchen; denn


Sotto la mano non ci piove.


Unter der Hand regnet es nicht.


Die Sonne tut Wunder:


Dove non entra il sole,

entra il medico.


Wohin die Sonne nicht kommt,

kommt der Arzt.


Manche Wochentage bringen kein Glück, da darf man nichts unternehmen:


Nè di Venere e nè di Marte,

non si sposa e non si parte;

e non si mettono figli all' arte.


Am Freitag und am Dienstag nicht

heiratet man, noch zur Reise aufbricht,

noch gibt man Söhne dem Lehrherrn in Pflicht.
[203]

Überhaupt sind die Italiener sehr vorsichtig und übereilen sich nicht gern, nach ihrem Lieblingswort:


Chi va piano,

va sano,

e lontano;


Geh nur sacht,

sicher bedacht!

Nimm dir Zeit!

Kommst schon weit,


denn


presto bene,

mai viene.


Wer nur hetzt,

lahmt zuletzt.


Zur Bequemlichkeit gehört aber auch Wohlhabenheit; darum:


È meglio nascere senza

naso che senza fortuna!


Es ist besser, ohne Nase geboren

zu werden, als ohne Vermögen.


Acqua passata non macina più.


Abgelaufenes Wasser mahlt

(treibt die Mühle) nicht mehr.


Chi dal banco vuol soccorso,

perde il pelo come un orso.


Wer zur Bank nach Hilfe schaut,

verliert dem Bär gleich Haar und Haut.


È inutile campana che tu suona,

chi non è divoto, non ci viene.


Unnütz ist der Glocken Läuten,

wo es fehlt an frommen Leuten.


In van si pesca,

se l'amo non ha esca.


Niemand jemals Fische fängt,

wenn am Haken kein Köder hängt.


Star a letto e non dormire,

star a tavola e non mangiare,[204]

aspettare e non venire,

son' tre cose di morire.


Im weichen Bett nicht schlafen können,

am reichen Tisch nicht essen können,

warten und nicht kommen sehen,

sind drei Dinge, nicht auszustehen.


Chi non ha nulla da fare,

prende i cania pettinare.


Wer nichts zu tun hat im Grunde,

fängt an und kämmt die Hunde.


Impara l'arte,

e mettila da parte!


Lerne die Kunst,

und überlaß sie der Gunst!


Vor zwecklosem Reden und leerem Geschwätz wird gewarnt:


Prima di aprire la bocca,

conterai fin'a 10!


Bevor du den Mund auftust,

zähle bis 10!


Parla poco ed ascolta assai!


Rede wenig und höre viel!


Chiacchiere e tabbacchiere di legno, il banco non le cambia.


Geschwätz und hölzerne Tabaksdosen wechselt die Bank nicht.


Hierzu ein echtes Capriwort:


Crape è cumo 'na tina,

Quello che si fa a sera,

si sape a mattina,


Im kleinen Capri bleibt nichts verborgen,

was am Abend geschieht, weiß

jeder am Morgen.


Darum soll man seine Zeit stets nützlich verbringen:


Fin' alla bara

sempr' imparare!


Stets bis zur Bahre

lernen ist's Wahre. –


Vor allem schon die Kinder nicht verwöhnen, sondern streng halten!


Leider nur zu wahr, wenn auch ziemlich derb, ist das bäurische Wort:
[205]

Chi ha un sol' porco, lo fa grasso,

chi tiene un sol' figlio, lo fa pazzo.


Wer ein einzig Schwein hat, macht fett es zum Schmaus,

wer nur einen Sohn hat, macht einen Narren daraus.


Und wahr ist leider auch oft:


Chi 20 non sa,

di 30 non ha.


Wer mit 20 nichts weiß und kann,

ist mit 30 ein armer Mann.


Wichtige Geschäfte verrichtet man selbst:


Chi vuole, vada; e chi non vuole, manda.


Wer ernstlich will, geht; und wer nicht will, schickt.


Genau so im Englischen:


If you would have your business done, go; if not, send!


Es mögen noch allgemeine Lebensregeln, Bemerkungen und Erfahrungen in freier Folge erwähnt sein:


Chi ben commincia,

è alla meta dell òpra.


Wer gut beginnt, hat schon die

Hälfte des Werkes getan.


L'uomo per la parola,

ed il bue per le corna!


Den Mann nimmt man beim

Wort und den Ochsen bei den Hörnern!


Piccola casa e grande terra!


Kleines Haus und großer Besitz!


Chi ha terra – ha guerra.


Eigne Erde – bringt Beschwerde.


Sulla barca che sta il capitano, non comanda il marinaio.


Auf der Barke, wo der Kapitän weilt, befiehlt kein Matrose.
[206]

Dove c'è luce, non ci vuole lanterne.


Wo Tageslicht ist, braucht man keine Laterne.


Bandiera vecchia, onore di capitano.


Alte Fahne, Ehre des Kapitäns.


Da una bella scarpa ne viene sempre un bel scarpone.


Aus einem schönen Schuh wird immer noch ein schöner Pantoffel.


La gallina vecchia fa buon brodo.


Die alte Henne gibt gute Brühe.


Sopra il nero non entra il bianco.


Auf Schwarz läßt sich nicht Weiß malen.


Mundartlich:


A gatta pe nghiei presse, facette i figlie cicati.


Die Katze brachte in der Eile die Jungen blind zur Welt.


(pe nghiei presse = facette = it, fece; cicati = it ciechi.)


wörtlich: schnell gehen.


Chi disprezza, vuol comprare.


Wer tadelt, will kaufen.


Le parole dell asino non vanno al cielo.


Die Worte des Esels dringen nicht zum Himmel.


Chi ode, vede e tacia,

se vuol vivere in pace.


Wer hört, sieht und schweigt,

ist zum Frieden geneigt.


Dal detto al fatto

v'è un gran tratto.


Vom Gesagt zum Getan

ist weit oft die Bahn.


Mundartlich:


È finuto u tiempo che Bertola filava.


Die Zeit ist vorbei, wo Berta spann.
[207]

Prima il dovere,

poi il piacere!


Erst die Pflicht,

und dann das Vergnügen.


Vorsicht ist namentlich im Umgang mit Menschen und bei der Wahl von Freunden geboten:


Persone senza colore

Son false e traditore.


Leute, deren Farbe nicht frisch,

sind falsch und verräterisch.


Veleno in cuore e zucchero in bocca.


Gift im Herzen und Zucker im Munde.


Dimmi, con chi tu vai,

che io sapro, quel che tu fai.


Sage mir, bei wem du bleibst,

damit ich wisse, was du treibst.


Chi va collo zoppo, dopo l'anno impara a zoppicare.


Wer mit dem Lahmen geht, lahmt bald selbst.


Liberatevi di tre C: cognati, compari e cugini!


Befreie dich von drei »ern«: Schwägern, Gevattern und Vettern!


I migliore amici sono quelli che stanno in tasca.


Die besten Freunde sind, die sich in der Tasche befinden.


Aber auch:


Vale meglio un amico che cento ducati.


Besser ein Freund als hundert Dukaten!


Unnütze oder undankbare Mühe bedeutet:


Tirare l'acqua colla paniere.


Wasser im Korbe heben (im Siebe tragen).


Lavare la testa all asino, ci si perde il ranno ed il sapone.


Einem Esel den Kopf waschen, heißt Lauge und Seife vergeuden.


Alla bocca non c'è gabella.


Am Mund ist kein Zollamt.
[208]

Chi va al molino, s'infarina.


Wer in die Mühle geht, macht sich weiß.


Una sola noce nel sacco non fa rumore.


Eine einzige Nuß im Sacke macht kein Geräusch.


Chi dorme, non piglia pesce.


Wer schläft, fängt keine Fische.


Chi vive di speranza, muore disperato.


Wer von Hoffnung lebt, stirbt hoffnungslos.


Meglio un uovo oggi che domani una gallina.


Besser heute ein Ei, als morgen eine Henne.


Meglio fringuello in mano che tordo in frasca.


Besser ein Fink in der Hand als ein Krammetsvogel auf dem Zweige.


Dove va un cardillo, vanno tutti.


Wohin ein Distelfink fliegt, fliegen alle.


Col tempo e colla paglia si maturano le nespole.


Mit der Zeit und auf Stroh reifen die Mispeln.


Molto fumo e pocco arrosto.


Viel Rauch und wenig Braten.


L'arrosto a me, il fumo a te.


Mir den Braten, dir den Rauch!


O mangiar' sta minestra,

o saltar sta finestra!


Entweder die Suppe aus,

oder zum Fenster hinaus!


Se in cucina più cuochi, la minestra sa di fumo.


Wenn mehrere Köche in der Küche sind, schmeckt die Suppe nach Rauch.
[209]

Chi dalle serpe è punto, ha paura della lucertola.


Wer von der Schlange gebissen, hat Angst vor der Eidechse.


Buon vino fa buon sangue.


Guter Wein schafft gutes Blut.


Vino in vetro, ed acqua in creta!


Den Wein trinkt man aus Gläsern, das Wasser aus Krügen!


Il buon vino si vende in cantina.


Der gute Wein wird im Keller verkauft.


Chi va in cantina e non beve,

è un asino, chi lo crede.


In den Keller gehen und nicht trinken –

wer das glaubt, ist ein Esel.


Uomo di vino –

cento al carrino.

Carrino = alte neapolitanische Münze von 81/2 Goldi.


Weintrinker sind, wie's Leben lehrt,

hundert nicht vier Groschen wert.


L'acqua rovina i ponti, il vino i cervelli.


Das Wasser zerstört Brücken, der Wein den Verstand.

La donna bella

non è poverella.


Die schöne Frau ist immerdar

nicht so gänzlich arm fürwahr.


Una bella senza dote è un uccello senza piume.


Eine Schöne ohne Mitgift ist ein Vogel ohne Federn.


Meglio prendere una donna che vale e non che tiene.


Besser eine Frau nehmen, die viel gilt und nicht, die viel hat!


Vale più una donna grassa che 7 donne magre.


Eine dicke Frau ist mehr wert als sieben dünne.
[210]

Nè donne a nè tele

a lume di candele!


Frauen und Leinwand nicht

nimmt man bei Kerzenlicht.


Quando si vedono, 3 donne a parlare, o parlano male del prossimo o dei mariti.


Wenn man drei Frauen redend beisammen sieht, verklatschen sie andere oder ihre Männer.


Tre donne ed una oca fan mercato.


Drei Frauen und eine Gans machen einen Jahrmarktslärm.


La donna è come la castagna:

Bella di fuori e dentro ha la magagna


Die Frau ist der Kastanie gleich:

von außen schön und inwendig an Fehlern reich.


Tre cose al mondo son belle a vedère:

donna che balla, nave a vela, campo fiorito!


Drei Dinge zu schauen sind schön auf der Welt:

Die tanzende Frau, das segelnde Schiff, das blühende Feld.

1

Reimsprüche habe ich nach Möglichkeit auch in Reimen wiedergegeben.

Quelle:
Zschalig, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri. Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925, S. 199-211,213.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon