[93] 15. Der König Stieglitz.1

Es war einmal ein armer Schuster, der hatte drei sehr schöne Töchter, die Jüngste aber war die Schönste. Er war aber sehr arm und obgleich er den ganzen Tag herumlief und Arbeit suchte, verdiente er doch sehr selten etwas. Wenn er nun Abends mit leeren Händen nach Hause kam, fuhr ihn seine Frau mit harten Worten an und auch seine Töchter machten ihm Vorwürfe.

Eines Tages nun war er lange herumgewandert und hatte Nichts verdient. Da kam er in einen Wald, und weil er so müde war, setzte er sich auf einen großen Stein und sprach ganz trostlos: »Ach, weh mir!« Kaum hatte er das gesagt, so stand ein schöner Jüngling vor ihm, der frug: »Warum hast du mich gerufen?« »Ich habe euch nicht gerufen, edler Herr,« antwortete der Schuster. »Doch! wenn Jemand sich auf diesen Stein setzt und ruft: Ach, weh mir! dann muß ich immer erscheinen,« sprach der Jüngling. Da erzählte ihm der Schuster, wie schlecht es ihm ergehe, und der schöne Jüngling sprach zu ihm: »Komm mit mir, ich will dir etwas geben.« Da führte er ihn durch einen unterirdischen Gang in ein wunderschönes Schloß, das war aber auch unterirdisch, und gab ihm zu essen, so viel sein Herz begehrte. Dann füllte er ihm noch die Taschen mit Geld und sprach: »Kehre zu deiner Familie zurück, über acht Tage[93] aber mußt du mir deine jüngste Tochter herbringen. Ich kann sie jetzt zwar noch nicht heirathen, aber der Tag wird kommen wo ich sie zu meiner Gemahlin machen kann.«

Der arme Schuster machte sich fröhlich auf den Weg, kaufte Einiges ein für seine Familie, und kehrte nach Hause zurück. Als er anklopfte, hörte er schon seine Frau und seine Töchter, die sagten: »Da kommt er gewiß wieder mit leeren Händen, und wir verhungern fast.« Als er ihnen aber seine Schätze zeigte, wurden sie ganz freundlich, und seine Töchter umarmten ihn und nannten ihn ihr liebes Väterchen. »So?« sprach er, »jetzt bin ich euer liebes Väterchen!« Da erzählte er ihnen, wie es ihm ergangen sei, und sagte auch seiner jüngsten Tochter, daß er versprochen habe, sie dem Jüngling zu bringen. Die war es zufrieden und nach acht Tagen machte sie sich mit ihrem Vater auf den Weg. Als sie an den großen Stein kamen, setzte er sich darauf und rief: »Ach, weh mir!« Sogleich erschien der schöne Jüngling, führte sie Beide in sein unterirdisches Schloß und bewirthete sie herrlich. Dann umarmte der Vater seine Tochter und ging nach Haus.

Nun hatte das Mädchen ein herrliches Leben. Der schöne Jüngling zeigte ihr alle Zimmer des Schlosses und sprach zu ihr: »Mit diesen Schätzen darfst du thun was du willst, und wenn deine Schwestern dich besuchen, darfst du ihnen davon geben, so viel du willst.« Zuletzt aber zeigte er ihr ein verschlossenes kleines Zimmer, und sprach: »Dieses Zimmer aber darfst du nie aufmachen. Hüte dich wohl, dich von deinen Schwestern dazu überreden zu lassen. Es wäre dein Unglück. Achte wohl auf das was ich dir sage, denn ich bin nicht immer bei dir. Ich muß sehr oft auf zwei oder drei Tage fortgehen, ich kann dir aber nicht sagen, wohin.« Der schöne Jüngling aber war ein König, der König Cardiddu und war von einer alten Hexe2 in dieses unterirdische Schloß verbannt[94] worden, weil er ihre Tochter nicht hatte heirathen wollen. Zu dieser alten Hexe mußte er auch gehen, wenn er auf zwei oder drei Tage fortging. In dem Zimmer aber waren hilfreiche Feen, die nähten Kinderzeug für die Schusterstochter.

Nun begab es sich eines Tages, daß der König wieder auf einige Tage verreisen mußte, und vor seiner Abreise schärfte er seiner Frau alle seine Warnungen noch einmal ein. Als er nun weg war, kamen die Schwestern der jungen Frau und wollten sie besuchen. Da bewirthete sie sie auf's Herrlichste, zeigte ihnen das ganze Schloß und beschenkte sie reichlich. Als sie aber vor der verschlossenen Thür vorbeikamen, sprach die eine Schwester: »Schließe doch diese Thür auf und laß uns sehen was darinnen ist.« »Nein,« antwortete sie, »in dieses Zimmer darf ich nicht hineingehen, mein Mann hat es mir verboten.« »Ach was,« sagten die Schwestern, »dein Mann ist so viele Meilen weit, der merkt ja Nichts davon.« Sie aber blieb standhaft und wollte nicht aufmachen. Da sagten die Schwestern: »Wenn wir erst einmal fort sind, wirst du ganz gewiß aufmachen.« Damit gingen sie fort, und nicht lange so kam der König nach Haus. »Sind deine Schwestern hier gewesen?« frug er, »und hast du ihnen auch das Zimmer nicht aufgeschlossen?« »Nein,« sprach sie, »ich habe eurem Befehl gehorcht.« Sie hatte aber gar keine Ruhe mehr, und dachte immer nur, wie sie ihre Neugierde befriedigen könnte. Als er nun schlief, nahm sie leise eine Kerze, und beugte sich über ihn, um zu sehen, ob er schliefe. Dabei aber hielt sie die Kerze schief und ein Tropfen Wachs fiel herab, und gerade auf des Königs Stirn. In demselben Augenblick aber befand sie sich auf dem großen Stein im Wald, und der König stand neben ihr und sprach: »Siehst du, daß deine Neugierde dein Unglück gewesen ist? Ich kann dich nun nicht länger behalten, du mußt in die weite Welt hinauswandern. Wenn du aber thust was ich dir sage, wirst du vielleicht doch noch meine Gemahlin. Gehe immer gerade aus, so wirst du endlich an das Haus der alten Hexe kommen. Da setze dich hin, so wird sie dich rufen und dir sagen, du sollest heraufkommen. Nimm dich aber in Acht, sie will dich fressen. Gehe also nicht eher hinauf, als bis[95] sie dir bei dem Namen des Königs Cardiddu schwört, dich nicht zu fressen. Dann gehe ruhig hinauf und lasse dich vor ihr in den Dienst nehmen.« Als der König das gesagt hatte, verschwand er, und die arme Frau blieb allein in dem finstern Wald.

Da fing sie an zu wandern, und weinte bitterlich, und als es Tag geworden war, kam sie richtig an das Haus der alten Hexe. Da setzte sie sich vor die Thür und schaute betrübt vor sich hin. Als die Hexe sie nun erblickte, dachte sie: »Das wäre ein schöner Braten für mich,« und rief ihr gar freundlich zu: »Schönes Mädchen, komm doch herauf zu mir.« Sie aber antwortete: »Ach nein, ich komme nicht, denn ihr wollt mich doch nur fressen.« »Das fällt mir gar nicht ein,« sprach die Hexe, »komm nur.« »So schwört mir bei dem Namen des Königs Cardiddu,« sprach die Frau, »daß ihr mich nicht fressen wollt.« Da schwur die Hexe bei dem Namen des Königs Cardiddu, und die arme Frau ging hinauf, und ließ sich als Magd dingen. Die Hexe aber konnte es nicht verwinden, daß sie sie nicht fressen durfte, und trachtete immer, wie sie sie in eine Schlinge locken könnte.

Eines Tages also rief sie ihre neue Magd und sprach: »Ich muß in die Messe gehen, während ich dort bin kehre das Haus und kehre es nicht.« Nun stand die arme Frau rathlos da und wußte gar nicht, wie sie diesen Befehl ausführen solle, und in ihrer Angst fing sie bitterlich an zu weinen. Auf einmal erschien der König Cardiddu, und frug sie, warum sie weine. Da klagte sie ihm ihr Leid. »So,« sagte er, »jetzt weißt du keinen Ausweg mehr? Rufe doch deine Schwestern, die geben dir ja sonst so gute Rathschläge, vielleicht können sie dir jetzt auch helfen.« Als er sie aber so weinen sah, sprach er: »Nun, weine nur nicht, ich will dir schon helfen. Kehre das ganze Haus recht säuberlich, dann aber nimm den Korb mit dem Kehricht und laß ihn die Treppe hinunterrollen.« Das that sie, und als die Hexe nach Hause kam, sah sie, daß ihr Befehl richtig ausgeführt worden war, und ergrimmte, aber sie konnte ihr Nichts anhaben.

Den nächsten Morgen rief sie sie wieder und sprach: »Ich gehe in[96] die Messe; zünde das Feuer an und zünde es nicht an.« Nun war die arme Frau wieder rathlos und fing an zu weinen. Da kam der König Cardiddu wieder und sprach: »Weißt du dir schon wieder nicht zu helfen? Rufe doch deine Schwestern, die können dir gewiß rathen.« »Ach,« antwortete sie, »wenn ihr mich nur zum Besten haben wollt, so laßt mich doch in Ruhe.« Da that sie ihm leid und er sprach: »Nun, weine nur nicht. Lege das Holz zurecht, als ob du Feuer machen wolltest, stelle auch den Kessel darauf und die Zündhölzchen lege daneben, aber ohne es anzuzünden.« Das that sie, und als die Hexe kam, war der Auftrag wieder richtig ausgeführt. »Wenn ich nur wüßte, wer dir dabei hilft,« sagte sie. Die arme Frau aber meinte: »Wer sollte mir denn helfen, es kommt ja Niemand her.«

Am dritten Morgen ging die Hexe wieder in die Messe und sprach: »Mache das Bette und mache es nicht.« Nun fing die arme Frau wieder an zu weinen, denn sie wußte keinen Rath. Da erschien aber der König Cardiddu, und ob er sie auch mit ihren Schwestern neckte, so half er ihr doch endlich, denn er hatte sie von Herzen lieb. »Weißt du was du thun mußt?« sprach er. »Nimm die Betttücher und die Decken auf und falte sie, die Matratzen aber laß liegen.« Das that sie und so war auch der dritte Auftrag richtig ausgeführt.

Die Hexe aber konnte sich doch nicht zufrieden geben, und sann wieder etwas Neues aus. Sie nahm alle ihre weiße Wäsche, tauchte sie in Ochsenblut, und machte ein schweres Bündel davon. Das gab sie der armen Frau und sprach: »Diese Wäsche mußt du mir heute Abend gewaschen, gebleicht, gestopft, gebügelt und gefaltet wieder bringen, sonst fresse ich dich.« Da nahm die arme Frau das schwere Bündel, das sie kaum tragen konnte, und wanderte mühsam herum, um einen Bach zu suchen. Dabei strömten ihr die Thränen über die Wangen. Da erschien wieder der König Cardiddu und frug sie, warum sie weine. »Ach,« antwortete sie, »da soll ich armes Weib bis heute Abend alle diese Wäsche waschen, bleichen, stopfen, bügeln und falten, sonst frißt mich die Hexe. Nicht einmal ein Stück Seife hat sie mir mitgegeben.« »Können dir denn[97] deine Schwestern nicht helfen?« frug der König. »Nun, weine nur nicht. Steige auf jenen Berg hinauf, dort sitzt der König der Vögel. Dem bringe deine Wäsche und sage ihm, der König Cardiddu hätte dich geschickt.« Da stieg sie mühsam den Berg hinauf, und kam zum König der Vögel, dem brachte sie ihr Bündel und sagte ihm, der König Cardiddu habe sie geschickt. Da that der König der Vögel einen Pfiff, und sogleich kamen von allen Seiten seine Feen herbei, die nahmen die Wäsche und im Handumdrehen war sie gewaschen, gebleicht, gestopft, gebügelt und gefalten. Die arme Frau aber legte sich hin und schlief bis zum Abend. Als sie nun der Hexe die Wäsche brachte, war diese sehr erstaunt und zornig, daß sie auch diesen Auftrag richtig ausgeführt hatte, und sann über eine neue Arbeit nach.

Da nahm sie alle ihre Matratzen, zeigte sie der armen Frau und sprach: »Bis heute Abend mußt du alle diese Matratzen auftrennen, die Wolle waschen und trocknen, die Ueberzüge waschen und bügeln und die Matratzen gestopft wiederbringen, sonst fresse ich dich.« Da nahm die arme Frau eine Matratze nach der andern und trug sie mühsam auf das Feld hinaus, aber sie sah wohl, daß sie die Arbeit nie würde ausführen können. Da setzte sie sich hin und weinte, aber der treue König Cardiddu erschien auch gleich, und sie klagte ihm ihr Leid. »Gehe wieder auf den Berg und sage dem König der Vögel, der König Cardiddu schicke dich,« sprach er. Sie konnte aber die schweren Matratzen nicht den Berg hinauftragen, da half er ihr, und als sie zum König der Vögel kamen, pfiff dieser seinen Feen und die besorgten diese ganze Arbeit. Sie aber schlief ruhig bis zum Abend, dann brachte sie der Hexe die Matratzen wieder. Nun wußte die Hexe keinen Rath mehr, und beschoß sie zu ihrer Schwester zu schicken, die war eine noch schlimmere Hexe. Da gab sie ihr einen Brief und ein Kästchen, das sollte sie dieser Schwester bringen.

Die arme Frau ging betrübt ihren Weg und weinte, der König Cardiddu erschien aber auch gleich und frug sie, warum sie denn schon wieder weine. Da klagte sie ihm ihr Leid. »Nun, weine nicht,« antwortete er, »merke nur auf das was ich dir sage. Dieses Kästchen sollst[98] du also der Hexe bringen; hüte dich aber es unterwegs aufzumachen. Erst wirst du an einen reißenden Strom kommen, darin wird Blut und Wasser fließen. Sprich du aber nur: Nein, wie schön ist dieser Strom3, so wird er sich besänftigen und du kannst hindurch. Dann wirst du einen Esel und einen Hund sehen, der Esel hat im Maul den Knochen des Hundes, und der Hund hält das Gras des Esels. Wenn sie dich nun nicht vorbeilassen wollen, so nimm dem Esel den Knochen aus dem Maul und gieb ihn dem Hund, und dem Esel gieb das Gras. Dann wirst du an das Schloß der Hexe kommen; die Thüre aber wird in einem fort sich auf und zu bewegen, daß du nicht durch kannst. Sprich aber nur: Nein, wie schön ist diese Thür, so wird sie stille stehen. Dann gehe die Treppe hinauf und gieb den Brief und das Kästchen ab. Die Hexe wird dir sagen, du sollest warten bis sie den Brief gelesen hat. Hüte dich aber, es zu thun, denn in dem Brief steht, sie solle dich fressen, sondern entflieh so schnell du kannst, und die Thür, der Esel, der Hund und der Strom werden dich durchlassen.«

Nun ging die arme Frau getröstet weiter, wie sie aber das Kästchen so anschaute, erwachte die Neugierde in ihr, und sie dachte: »Es sieht's ja kein Mensch, ob ich das Kästchen aufmache.« Kaum aber hatte sie den Deckel berührt, so fing das Kästchen an zu klingen, und klang in einem fort. Da erschrak sie heftig, aber je mehr sie versuchte es zum Stillstehn zu bringen, desto lauter klang das Kästchen. Da fing sie an bitterlich zu weinen und sogleich kam auch der König Cardiddu. »Habe ich dich nicht gewarnt?« sagte er. »Warum bist du doch so unverständig? Wäre ich nicht glücklicherweise noch in der Nähe gewesen, so hätte ich dir nicht helfen können. Dies eine Mal will ich dir noch helfen, dann aber sei verständig.« Da brachte er die Musik zum Stillstehen, und gab ihr das Kästchen zurück und sie setzte ihren Weg fort. Nicht lange so kam sie an einen reißenden Strom, in dem floß Blut und Wasser. Da sprach sie: »Nein, wie schön ist dieser Strom!« und sogleich glättete sich das Wasser und sie[99] konnte ohne Gefahr hindurchgehen. Bald aber sah sie einen Esel, der hielt einen Knochen im Maul, und einen Hund, der hatte Gras im Maul, und beide stritten sich, also daß sie nicht durchkonnte. Da nahm sie dem Esel den Knochen und gab ihn dem Hund und dem Esel gab sie das Gras und sogleich ließen die Thiere sie durch. Als sie nun an das Schloß der Hexe kam, mußte sie durch eine Thür, die schlug immer auf und zu, also daß sie nicht durchkonnte. Sie sprach aber: »Nein, wie schön ist diese Thür!« und die Thür blieb sogleich stille stehen, und die arme Frau konnte durch. Da ging sie die Treppe hinauf und klopfte an, und als die Hexe herauskam, gab sie ihr den Brief und das Kästchen. »Warte einen Augenblick,« sprach die Hexe, »bis ich den Brief gelesen habe,« und ging in ein anderes Zimmer, sie aber sprang die Treppe hinunter, und als sie an die Thür kam, sprach sie ihren Spruch, da konnte sie durch, und als sie zu den Thieren kam, gab sie Jedem sein Futter, und auch sie ließen sie durch, und als sie zum Strom kam, sagte sie ihren Spruch und entkam glücklich.

Die Hexe aber, da sie ihre Flucht merkte, lief ihr nach, und rief schon von Weitem der Thür zu: »O Thüre, laß sie nicht durch.« Die Thür aber antwortete: »Warum sollte ich sie nicht durchlassen? Sie hat mir gesagt, ich sei schön, du aber schimpfst mich immer.« Und die Thür wollte für die Hexe nicht stille stehen, also daß sie sich durchdrücken mußte, so gut sie konnte. Da rief sie auch den Thieren zu, sie sollten die Fliehende nicht durchlassen, aber die Thiere antworteten: »Warum sollten wir sie nicht durchlassen? Sie hat uns ja das Futter gewechselt, daß wir einige Augenblicke Ruhe gehabt haben, du aber hast es nie gethan, und dich wollen wir nicht durchlassen.« Da mußte sie einen großen Umweg machen, um vorbei zu kommen, und rief dem Strome zu, er solle die Fliehende aufhalten. Der Strom aber antwortete: »Warum sollte ich sie aufhalten? Sie hat mir gesagt, ich sei schön, du aber schimpfst mich immer, und dich will ich nicht durchlassen.« Da floß der Strom immer reißender, und als sie dennoch durch wollte, mußte sie jämmerlich ertrinken.[100]

Als nun aber die arme Frau zu ihrer Herrin zurückkehrte, fand sie, daß große Vorbereitungen zu einem glänzenden Hochzeitsfest gemacht wurden, denn der König Cardiddu sollte nun doch die Tochter der Hexe heirathen. Da mußte auch die arme Frau Hand anlegen und that es mit schwerem Herzen, denn sie hatte den König sehr lieb. Als es aber Abend war, sprach der König zur Hexe: »Lasset die Magd mit zwei brennenden Kerzen am Fußende des Bettes knieen.« Und die arme Frau mußte mit zwei brennenden Kerzen am Fußende des Bettes knieen, während die Tochter der Hexe im Bett lag. Die alte Hexe aber wollte um Mitternacht durch ihre Zauberkünste das Stück Boden, auf welchen sie kniete, einfallen lassen, also daß sie sterben müßte. Das wußte aber der König Cardiddu, und nach einer Weile sprach er zu seiner Frau: »Höre, das arme Weib dauert mich, noch dazu in diesem Zustand. Nimm ein Weilchen die Kerzen und laß sie ein wenig sitzen.« Da mußte die Tochter der Hexe aufstehen und am Fußende des Bettes niederknieen, die rechte Frau aber setzte sich am Kopfende des Bettes auf einen Stuhl. Da flüsterte der König ihr zu: »Komm und lege dich ganz leise in's Bett.« Da rückte sie immer näher, bis sie im Bette lag. Als es aber Mitternacht schlug, da gab es einen gewaltigen Lärm, und der Boden sank ein und die Tochter der Hexe fiel in den Keller hinunter. Da standen der König und seine Frau leise auf und entflohen.

Als es nun kaum Tag war, wollte die Hexe nach ihrer Tochter sehen, aber da sie in's Zimmer trat, war Niemand darin. Da lief sie ganz erschrocken in den Keller, und als sie erkannte, daß ihre eigene Tochter sich todt gefallen hatte, fing sie an laut zu schreien, und schwur sich zu rächen. Da verfolgte sie die beiden Fliehenden, und nicht lange, so hatte sie sie beinahe eingeholt. Als der König sie nun kommen sah, sprach er: »Werde du zum Gemüsegarten und ich zum Gärtner darin.« Da wurde die Frau zum Gemüsegarten, und der König war der Gärtner darin. Nicht lange so kam die Hexe am Garten an, und frug den Gärtner: »Sagt mir, guter Mann, habt ihr vielleicht einen Mann und eine Frau gesehen, die hier vorbeiliefen?« »Was,« antwortete der Gärtner, »junge Erbsen[101] wollt ihr? die sind noch nicht reif.« »Ach nein,« sprach sie, »ich frage euch ob ihr einen Mann und eine Frau habt vorbeilaufen sehen?« »Wie könnt ihr nach Rüben fragen,« antwortete er, »die sind ja gar nicht an der Zeit!« So antwortete er ihr auf jede Frage, bis die Hexe ungeduldig wurde und davonlief.

Da nahmen die Beiden ihre menschliche Gestalt wieder an und flohen weiter. Die alte Hexe aber hatte sie bald erspäht, und setzte ihnen nach. »Werde du zur Kirche und ich zum Sakristan darin,« sprach der König, und alsobald wurde die Frau zur Kirche und er zum Sakristan. Als nun die Hexe vorbei kam, frug sie ihn: »Habt ihr vielleicht einen Mann und eine Frau gesehen, die hier vorbeiliefen?« »Die Messe fängt erst in einer Stunde an,« antwortete der Sakristan, »der Pater ist noch nicht gekommen.« Und so viel sie ihn auch fragen mochte, er gab keine andere Antwort. Da wurde die Hexe ungeduldig, und lief fort, die Beiden aber nahmen ihre menschliche Gestalt wieder an, und wanderten weiter.

Es dauerte aber nicht lange, da hatte die Hexe sie wieder erspäht, und setzte ihnen nach. »Werde du zum Aal,« rief der König, »und ich zum Teich, in dem du herumschwimmst,« und sogleich wurde der König zum Teich und seine Frau zum Aal. Als nun die alte Hexe herbeikam, wollte sie den Aal fangen, aber so oft sie ihn auch in Händen hatte, der Aal entschlüpfte ihr immer wieder. Da merkte sie, daß sie auf diese Weise der Beiden nicht habhaft werden konnte, und ging wieder nach Haus, indem sie sprach: »Wartet nur, ich will mich schon noch rächen!« Da setzte sie sich an ihr Fenster, steckte die gefalteten Hände zwischen die Knie, und sprach: »Nicht eher soll die Frau des Königs Cardiddu eines Kindes genesen, bis ich die Hände aus dieser Lage genommen habe.«

Der König aber und seine Frau wanderten weiter, bis sie an das königliche Schloß kamen. Kaum aber waren sie dort, so war die Stunde der Frau herbeigekommen, und sie konnte doch das Kind nicht zur Welt bringen, so lange die alte Hexe den Zauber auf ihr ließ. Da rief der König einen treuen Diener, und schickte ihn in alle Kirchen der Stadt[102] herum, mit dem Befehl an die Küster, sie sollten die Todtenglocken läuten. Dann mußte der Diener sich vor dem Hause der Hexe aufstellen. Als sie ihn nun dastehen sah, frug sie ihn: »Was bedeutet denn das Läuten der Todtenglocken in allen Kirchen?« Er antwortete: »Der König Cardiddu ist gestorben.« Da vergaß sie sich in ihrem Jubel und klatschte vor Freuden in die Hände, und sogleich gebar die Frau des Königs einen schönen Knaben. Da mußte der Diener wieder in alle Kirchen laufen, und überall befehlen, mit allen Glocken Gloria zu läuten. Als er sich nun wieder vor das Haus der alten Hexe aufstellte, frug sie ihn: »Warum wird denn Gloria geläutet?« Er antwortete: »Die Frau des Königs hat einen wunderschönen Knaben bekommen.« Da merkte sie den Betrug, und in ihrem Zorn rannte sie mit dem Kopf gegen die Mauer, daß sie todt hinfiel. Da feierte der König ein schönes Hochzeitsfest, und es war große Freude im Schloß. Die junge Königin aber ließ ihre Eltern und Schwestern auch an den Hof kommen, und sie lebten alle glücklich und zufrieden, wir aber gehen leer aus.

2

Mamma draja, Neugriechisch Drakäna, die menschenfressende Hexe, französisch ogresse, während die gewöhnliche Hexe mavara (magara) genannt wird, die schöne, aber nicht immer wohlthätige Zauberin maga, und die Fee fata.

3

Scì, scì, ch'è beddu stu sciume.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. XCIII93-CIII103.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Pascal, Blaise

Gedanken über die Religion

Gedanken über die Religion

Als Blaise Pascal stirbt hinterlässt er rund 1000 ungeordnete Zettel, die er in den letzten Jahren vor seinem frühen Tode als Skizze für ein großes Werk zur Verteidigung des christlichen Glaubens angelegt hatte. In akribischer Feinarbeit wurde aus den nachgelassenen Fragmenten 1670 die sogenannte Port-Royal-Ausgabe, die 1710 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Karl Adolf Blech von 1840.

246 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon