[153] 25. Von dem Kinde der Mutter Gottes.

Es war einmal ein Geistlicher, der war seinen Nachbarn immer eine Quelle des Aergers, denn er ließ Niemanden in sein Haus kommen, wusch und kochte Alles selbst, und wohnte ganz allein. »Dieser Pfaffe,« sagten die Leute, »da lebt er nun ganz allein und giebt Niemanden etwas zu verdienen.« So sannen sie denn darauf, wie sie ihm einen Streich spielen könnten.

Nun begab es sich, daß in dem Dorf eine arme, junge Frau wohnte, der war ihr Mann vor kurzem gestorben. Die genas nun eines wunderhübschen Töchterchens und starb bei der Geburt. Da nahmen die Nachbarn das arme, kleine Kindlein und legten es am frühen Morgen auf die Schwelle des Hauses, wo der Geistliche wohnte, denn sie dachten: »Dieses kleine Kind kann er doch nicht allein versorgen, auf irgend eine Weise wird er den Nachbarn etwas zu verdienen geben müssen.« Als nun der Geistliche aus seiner Thüre trat und das unschuldige Kindlein erblickte, das jämmerlich schrie, empfand er Mitleid mit ihm, hob es auf und brachte es zu einer Nachbarin, die mußte es säugen, und er gab ihr dafür jeden Monat eine gewisse Summe Geld. Als aber das Kind vier Jahre alt geworden war, nahm es der Geistliche wieder zu sich und die Nachbarn bekamen nach wie vor kein Geld mehr von ihm zu sehen. Das Kind aber schlief am Fuß einer Nische, darin stand eine Mutter Gottes1, die[153] wachte über das Kind, daß es gedieh und mit jedem Tage größer und schöner wurde. Das Kind aber nannte sie »Mutter« und sprach mit ihr, wie mit einer Mutter. Die Mutter Gottes lehrte das Kind lesen und nähen und stricken. Wenn nun der Geistliche nach Hause kam und das Kind an der Arbeit fand, frug er sie: »Wer hat dich das gelehrt?« Dann antwortete das Kind: »Die Mutter,« und der Geistliche verwunderte sich sehr darüber.

Als das Kind nun vierzehn Jahre alt geworden war, sah es der Geistliche eines Tages an und bemerkte wie schön es geworden war, und er wurde von einer bösen Lust ergriffen. Da stieg er auf die Kanzel und sprach: »Meine Freunde, rathet mir was ich thun soll. Ich habe vor mehreren Jahren eine junge Henne gefunden. Soll ich sie nun euch verkaufen oder selbst genießen?« Da antworteten die Leute: »Da ihr sie doch einmal gefunden habt, so genießt sie selber.« Als er nun nach Hause kam, sprach er zum Kinde: »Ich fürchte mich allein des Nachts, komm und schlafe diesen Abend bei mir.« Das Mädchen ging hin und erzählte es der Mutter Gottes, die sprach: »Willst du denn deine arme Mutter verlassen? Bleibe doch lieber bei mir und wenn er dich ruft, so gieb ihm diesen Trank, da wird er gleich einschlafen und du kannst wieder zu mir kommen.« Da gab die Mutter Gottes dem Kind einen Schlaftrunk, den reichte das Kind dem Geistlichen, als er es rief. Als nun der Geistliche fest schlief, stieg die Mutter Gottes aus ihrer Nische heraus, nahm das Kind in ihre Arme und entfloh mit ihm. In einer einsamen Gegend stand ein Häuschen, dort hielt sie an und wohnte mit dem jungen Mädchen, das wurde mit jedem Tage schöner.

Nun begab es sich eines Tages, daß der König auf die Jagd ging und dabei auch in die einsame Gegend kam. Mit einem Male sah er das wunderschöne Mädchen vor sich und fand es so schön, daß er zu ihm sprach: »Du sollst meine Gemahlin sein.« Da nahm er das Mädchen auf sein Pferd und brachte es in sein Schloß und die Mutter Gottes folgte ihnen.

Als aber die Hochzeit gefeiert worden war, trat die Mutter Gottes[154] zur jungen Königin und sprach: »Ich kann nun nicht länger bei dir bleiben. Wenn du aber in Noth bist, so rufe mich nur.« Damit verschwand sie. Nun lebten der König und seine junge Frau glücklich miteinander und nach einem Jahr gebar die Königin zwei wunderschöne Knaben. – Doch lassen wir nun die Königin und sehen uns nach dem Geistlichen um.

Als er am Morgen erwachte und im ganzen Haus das junge Mädchen nicht mehr fand, ward er von Grimm erfüllt und schwur sich zu rächen. Da machte er sich auf und wanderte durch das ganze Land, durch jedes Dorf und durch jede Stadt, um das Mädchen zu suchen. Endlich kam er auch in die Stadt, wo die junge Königin wohnte. Da wurde gerade das große Fest der St. Agatha gefeiert, und alle Leute waren auf den Straßen oder auf den Balkonen. »Gut,« dachte der Geistliche, »ich will durch alle Straßen gehen und an jedem Fenster hinaufschauen, so werde ich sie finden.« Als er nun am königlichen Schloß vorbeikam, hob er seine Augen auf und sah neben dem König die junge Königin stehen und erkannte sie sogleich. Da ließ er dem König sagen, er sei ein geistlicher Herr und bitte um die Vergünstigung, dem Zug von seinem Balkon aus sehen zu dürfen. Der König nahm ihn mit großem Respekt auf und führte ihn auch zur Königin, die erkannte ihn aber nicht. Als nun der Zug vorbeiging und Alle mit der Heiligen beschäftigt waren, und selbst die Amme der Kindlein auf den Balkon getreten war, schlüpfte der Geistliche unbemerkt in das Schlafgemach, wo die beiden Kindlein in einer schönen Wiege schliefen und schnitt ihnen mit einem scharfen Messer die Kehle ab. Das blutige Messer aber steckte er unbemerkt in die Tasche der Königin. Als die Amme den Zug betrachtet hatte, eilte sie zu den Kindlein zurück. Da fand sie sie todt, in ihrem Blute schwimmend, und erhob ein großes Geschrei. Der König und die Königin kamen herbeigestürzt, und bedenket den Kummer, den sie fühlen mußten, als sie ihre Kinder in diesem Zustande sahen. »Wer hat das gethan?« rief der König außer sich vor Wuth. »Majestät,« murmelte der Geistliche, »seht doch das Kleid der Königin an, es hat ja Blutflecken. Ich bin überzeugt, daß sie[155] ein blutiges Messer in der Tasche hat.« Da stürzte sich der König auf seine Frau, und fuhr ihr mit der Hand in die Tasche und fand das Messer. »Sieh,« rief er, »wenn ich dich nicht ermorde, so ist es nur, weil ich dich dennoch so lieb habe, ich will dich aber nicht mehr sehen. Nimm deine beiden Kinder und verlasse augenblicklich das Schloß.« Da nahm die Königin ihre beiden todten Kindlein auf den Arm und verließ weinend das Schloß.

Als sie sich nun so allein auf der Straße sah, überkam sie der Schmerz und sie schrie laut auf: »O Mutter, wo bist du nun? Hast du mich denn ganz verlassen?« In demselben Augenblick stand die Mutter Gottes neben ihr und sprach: »Weine nicht und gib mir deine Kindlein.« Da benetzte die Mutter Gottes ihre Finger mit Speichel und bestrich damit die Kehlen der Kinder und alsbald wurden sie wieder lebendig und lächelten ihre Mutter an. Die Mutter Gottes nahm nun das eine Kind auf den Arm und die junge Königin das andere, und so wanderten sie miteinander weiter. Da sprach die Mutter Gottes: »Um zu leben, müssen wir irgend etwas unternehmen. Wir wollen am Wege ein Wirthshaus errichten und so unser Brod verdienen.« Also richteten sie am Wege ein Wirthshaus ein, und die Königin mußte arbeiten vom Morgen bis zum Abend. Die Kinder aber wuchsen und gediehen, und wurden schöner als die Sonne und der Mond. – Lassen wir nun die Königin mit ihren Kindern und sehen wir, was aus dem König geworden ist.

Der grämte sich so über den Verlust seiner lieben Frau und seiner hübschen Kinder, daß er ganz traurig wurde und sich nicht trösten lassen wollte. Der Geistliche aber war bei ihm geblieben und begleitete ihn stets. So verflossen mehrere Jahre, da begab es sich, daß der König eine Reise machen mußte und auch den Geistlichen mitnahm.

Auf ihrer Reise kamen sie auch an dem Wirthshaus vorbei, wo die Mutter Gottes und die Königin wohnten, und weil ein hübscher Garten mit Bäumen dabei war, so sprach der König: »Hier ist so schöner Schatten, wir wollen hier ein wenig ruhen.« Da traten sie in den Garten und die Königin empfing sie; er erkannte seine Frau aber nicht. Sie aber[156] hatte ihn wohl erkannt, eilte hin und erzählte es der Mutter Gottes, die sprach: »Laß deine Kinder im Garten spielen mit den goldenen Aepfeln, die ich ihnen geschenkt habe.« Als nun die Kinder in den Garten kamen und mit den goldenen Aepfeln spielten, sah sie der König an, und sein Herz war gerührt und er wußte doch selbst nicht warum. Da fing er an mit ihnen zu spielen und erfreute sich an ihrem kindlichen Gespräch. Die Mutter Gottes aber nahm heimlich die goldenen Aepfel und steckte sie in des Königs Tasche, ohne daß er es merkte.

Als nun die Kinder mit ihren Aepfeln spielen wollten, fanden sie sie nicht und fingen an zu weinen. Da sprach die Mutter Gottes: »Warum habt ihr den unschuldigen Kindern das gethan? Wir haben euch freundlich aufgenommen und zum Dank nehmt ihr ihnen die goldnen Aepfel weg.« »Wie sollte ich dazu kommen, den armen Kindern etwas zu nehmen?« rief der König. »Ueberzeugt euch doch selbst, daß meine Taschen leer sind.« Die Mutter Gottes aber griff in seine Tasche, und zog die goldnen Aepfel heraus.

Als nun der König da stand und kein Wort mehr sagen konnte, sprach sie: »Wie in eurer Tasche die Aepfel sich vorgefunden haben, die ihr doch nicht hineingelegt hattet, so fandet ihr einst in der Tasche eurer Gemahlin das blutige Messer, von dem sie nichts wußte.« Da erkannte der König seine Frau und seine lieben Kinder, und umarmte sie voll Freuden. Die Mutter Gottes aber wies auf den Pfaffen, und sprach: »Dort steht der Mörder; bindet ihn und strafet ihn, wie sein Verbrechen es verdient.« Da ließ der König den Geistlichen ergreifen, mit einem Pechhemde bekleiden und so verbrennen, und die Asche wurde in die Lüfte gestreut. Die Mutter Gottes aber segnete den König und die Königin und ihre Kinder, und verschwand. Da kehrten sie auf ihr Schloß zurück, und lebten glücklich und zufrieden.

1

Eigentlich die »schöne Mutter«, la bedda madre.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. CLIII153-CLVII157.
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