Vorwort

Lappland und die Lappländer sind aus zahlreichen Schilderungen bekannt1. Auch ist es bei den heutigen Verkehrsmitteln für den Europäer ein Leichtes, Land und Volk aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Den von Jahr zu Jahr sich mehrenden Besuchern der grandiosen Alpennatur des westlichen Norwegens z.B. ist, wenn sie ihren Ausflug bis nach Tromsö ausdehnen, wiederholt bequeme Gelegenheit geboten, mit Lappen in Berührung zu kommen und Sitten und Lebensweise dieses in mancher Hinsicht merkwürdigen Volkes zu[5] beobachten. In den meisten Schilderungen wie auch bei flüchtiger Bekanntschaft mit dem Volke selber sind es aber zumeist nur die mehr äußerlichen Seiten des eigenthümlichen Lebens der Lappen, welche wir genauer kennen lernen, während die verschiedenen Aeußerungen des Culturlebens, weil von den Meisten unverstanden, in der Regel unbeachtet und unbemerkt bleiben. So verlautete bisher – in Deutschland wenigstens – fast nichts von der Poesie der Lappen, die doch nicht so ganz werthlos ist, wie man wohl glauben könnte und auch behauptet hat. Eine poetische Literatur oder Literatur überhaupt haben die Lappen freilich nicht aufzuweisen; aber O. Donner in Helsingfors hat eine Anzahl von Dichtungen gesammelt und herausgegeben (in der finnischen Zeitschrift »Suomi«, 2 jakso XI osa, in deutscher Uebersetzung »Lieder der Lappen«, Helsingfors 1876), die uns den Charakter und den Werth der lappischen Poesie ziemlich genau erkennen lassen.

Die lappische Poesie ist eine epische, lyrische und epigrammatische; die erstere behandelt fast nur Stoffe der heimischen Mythologie und Sage und ist nicht ohne Kraft und Schwung. Die relativ besten poetischen Erzeugnisse haben die Lappen jedoch in der Lyrik aufzuweisen und es genügt wohl, den Leser an die beiden alten, von Herder in seine »Stimmen der Völker in Liedern« aufgenommenen Lieder »Brautlied« und »An das Renthier« zu erinnern, um ihm eine nicht unvortheilhafte Meinung von den lyrischen Gedichten dieses Volkes beizubringen, wenigstens in Bezug auf lebendigen Schwung und zarte Empfindung. Im Ganzen gilt von der lappischen Lyrik, was O. Donner sagt (a.a.O.S. 21 ff.): »Wie das Volkslied im Allgemeinen sind auch die lappischen Lieder Improvisationen, Ausdruck des augenblicklichen Gefühls, bald traurig, bald jubelnd, bald von Zorn oder Mißstimmung erfüllt. Daß in ihnen überhaupt kein höherer Geist athmet, kann wohl bei einem geringen Polarvolk nicht befremden; sind doch beinahe alle Anstrengungen des Geistes[6] und des Körpers darauf gerichtet, das Leben durch alle vorhandenen Mühseligkeiten zu erhalten.«

In ungebundener Rede haben die Lappen an literarischen Producten nur Thierfabeln, Märchen und Sagen aufzuweisen, die dafür aber um so werthvoller sind, obschon viele davon modern oder von den benachbarten Finnen, Schweden und Norwegern entlehnt erscheinen. Eine Sammlung dieser Märchen und Sagen, dann Sprichwörter und Räthsel, von dem um die Kenntniß der lappischen Sprache und des lappischen Volkes hochverdienten Universitätsprofessor J.A. Friis in Christiania genau nach dem Volksmunde aufgezeichnet und herausgegeben (unter dem Titel: »Lappiske Sprogpröver – En samling af lappiske eventyr, ordsprog og gaader, med ordbog.« Christiania 1856), war überhaupt die erste Sammlung von Geistesproducten in lappischer Sprache, welche aus dem eigenen Bewußtsein des Volkes hervorgegangen waren, und ist und bleibt wohl das Interessanteste, was die Lappen an solchen zu bieten haben. Prof. Friis hat denn auch, um den Märchen- und Sagenschatz der Lappen einem weiteren, zunächst nordischen, Kreise von Freunden der Volkskunde zuzuführen, seiner Textausgabe eine norwegische Uebersetzung, beziehungsweise Bearbeitung der Märchen und Sagen folgen lassen unter dem Titel: »Lappiske Eventyr og Folkesagn« (Christiania 1871). In Deutschland ist diese Sammlung auffallenderweise fast ganz unbekannt geblieben; nur Prof. Felix Liebrecht hat meines Wissens – und zwar noch vor dem Erscheinen der norwegischen Bearbeitung – Einiges daraus in deutscher Uebersetzung mitgetheilt und auf den nicht unbedeutenden Werth der ganzen Sammlung hingewiesen (in »Germania«, Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde, herausgegeben von Karl Bartsch, XV. Jahrgang, 1870, S. 161–192). Es schien mir deshalb keine undankbare Aufgabe zu sein, diese Lücke in unserer sonst so reichen Märchenliteratur auszufüllen. Ich vermehrte die Zahl der von Friis mitgetheilten Märchen und Sagen[7] durch Aufnahme mehrere Nummern aus P.A. Lindholm's kürzlich erschienenem Werkchen: »Hos Lappbönder, Skildringar, Sägner och Sagor från Södra Lappland« (Stockholm 1884), aus dem ich auch die im Anhange beigegebenen Sprichwörter und Räthsel aus Friis' »Lappiske Sprogpröver« bereicherte. Die bereits von F. Liebrecht publicirten Märchen habe ich mit Einwilligung dieses um die Märchenforschung hochverdienten Gelehrten fast unverändert in meine Sammlung aufgenommen; es sind dies die Nummern: I, 1; VI; X; XVI; XX; XXI; XXII; XXV; XXXIII und XL.

Was nun die Märchen und Sagen als solche betrifft, so sind dieselben von verschiedenem, aber doch, wie schon gesagt, im Ganzen recht bedeutendem Werthe, entweder an und für sich oder in Bezug auf vergleichende Forschung; jedenfalls sind sie von hohem Interesse in mythologischer Beziehung, was schon s.Z. Liebrecht betont hat. Eine Anzahl derselben gehört ihrem Stoffe nach den Lappen ureigen an – es sind dies die meisten Thier- und Mythenmärchen, dann die Stalo- und historischen Sagen, obschon sich auch in diesen fremde Einflüsse bemerkbar machen; in anderen finden sich Vorstellungen, die in Märchen mit den Lappen verwandter Völkerschaften, als: Finnen, Ehsten, Mordwinen und Samojeden wiederkehren; so erinnert, um nur einige Beispiele anzuführen, das Märchen von der Schwester der Sonne (der Morgenröthe) (Nr. LIII), welche ein Jüngling küßt und zum Weibe nimmt, nachdem er ihre andere Schwester, die Abendröthe, nach Hause gebracht hat, an die ehstnische Sage von Koit und Ämarik, Morgenröthe und Abenddämmerung, nebenbei aber auch an eine unter den arischen Völkern vielfach verbreitete Anschauung2; »Der Riese, dessen Leben in einem Hühnerei verborgen war« (Nr. XX) gemahnt an die Erzählung der Samojeden von sieben Brüdern, welche ihre Herzen aus der[8] Brust nahmen, auf Zeltstangen hängten und, als diese zerstört wurden, auch selbst starben3; eine dem »Mädchen aus dem Meere« (Nr. X) ähnliche Geschichte haben sowohl die Finnen4 als auch die Samojeden5; die Vorstellung, daß die Flucht vor einem Riesen oder einer Riesin dadurch gelingt, daß man einen Feuerstein, eine Flinte, einen Kamm und dergleichen Dinge hinter sich wirft, wodurch Berge, Wälder und Seen entstehen, die den Verfolger aufhalten (»Der Riese und der kleine Junge«, Nr. XXI), findet sich auch in finnischen, ehstnischen, samojedischen, sowie anderen, z.B. auch isländischen6 Sagen und Märchen. Nicht wenige Märchen und Sagen, darunter auch solche, die der eben beschriebenen Gruppe angehören, weisen auf germanischen resp. nordgermanischen Ursprung oder Einfluß zurück, so besonders die Mehrzahl der von F. Liebrecht übersetzten Nummern. Die bezügliche Verwandtschaft näher nachzuweisen halte ich hier nicht für nöthig, da ich die in Frage kommenden deutschen und nordischen Märchen wohl als den meisten Lesern bekannt annehmen darf. Ebenso liegt der Zusammenhang der übrigen entlehnten Märchen, welche zum Theile bei den verschiedensten Völkern bekannt und wahrscheinlich durch Vermittlung der Nordgermanen oder Russen auch zu den Lappen gelangt sind, so klar zu Tage, daß derselbe keines weiteren Nachweises bedarf. Besonders hervorgehoben sei nur, daß das Märchen von dem »geraubten Schleier« (vgl. Nr. X) auch die Grönländer, Indier, Japanesen und Zulu's kennen und deshalb dieses wie manches andere internationale Märchen der Lappen nicht gerade entlehnt sein muß. Bemerkenswerth ist es auch, daß einerseits fremde Motive auf einheimische typische Sagengestalten übertragen worden sind,[9] andererseits durchaus indigene und originelle Gestalten der lappischen Mythologie schließlich zu Schablonen, wie sie aus der allgemeinen Märchenwelt bekannt sind, sich verflüchtigt haben. So finden wir z.B. in der Geschichte vom »genarrten Stalo« (Nr. XXXV) die Polyphem-Sage deutlich wieder, die übrigens in allgemeinerer Einkleidung, jedoch mit noch auffallenderen übereinstimmenden Details auch im »betrogenen Riesen« (Nr. XXIX) wiederkehrt. Der andere Fall ist besonders bei Njavvis-ene und Attjis-ene (vgl. S. 29 ff.) eingetreten, welche ganz die Rolle der guten, respective bösen Fee spielen (vgl. Nr. VI und VII); ähnlich erging es auch mit Gieddagäts-galgjo (vgl. S. 32 ff.). Die entlehnten Märchen haben natürlich weniger Werth; aber sie werden doch, wie Felix Liebrecht sagt, abgesehen von dem ihnen Eigenthümlichen, wenigstens noch insoweit anziehend erscheinen, als das direct anderswo Entnommene doch zuweilen in besonderer Form und Verbindung auftritt.

Die einzelnen Märchen dieser Sammlung sollten nach dem ursprünglichen Plane von Anmerkungen begleitet sein; diese waren auch bereits vollständig ausgearbeitet, mußten aber schließlich, da sie wegen der in ziemlich bedeutender Menge mitgetheilten, meist poetischen Varianten und Ergänzungen zu unverhältnißmäßig großem Umfange angeschwollen waren, fallen gelassen werden. Vielleicht ist es mir aber möglich, dieselben später in anderer Form in einem Schriftchen über lappische Poesie vorzulegen.


Wien, den 7. November 1885.

J.C. Poestion.

1

Das beste und umfassendste Werk über Lappland und die Lappländer ist bis jetzt »Om Lappland och Lapparne, företrädesvis de Svenske«. Ethnografiska Studier af Gustaf von Düben (Stockholm 1873); sehr lehrreich, interessant und zuverlässig ist auch »Eu Sommer i Finmarken, Russisk Lapland og Nordkarelen« af J.A. Friis. Anden Udgave (Christiania 1880); derselbe Verfasser hat im Jahre 1871 auch eine »Lappisk Mythologie« (Christiania) publicirt und zugleich die besten Arbeiten über die lappische Sprache geliefert, so eine vorzüglich ausführliche »Lappisk Grammatik« (Christiania 1856) mit einem separaten Bande Sprachproben (»Lappiske Sprogpröver ... med Ordbog«, ebenda 1856); soeben erscheint von ihm auch ein großartig angelegtes »Lexicon lapponicum cum interpretatione latina et norvegica adjuncta brevi grammaticæ lapponicæ adumbratione«. Christianiæ.

2

Vgl. O. Donner: »Lieder der Lappen«, S. 55.

3

Vgl. Castrén, Samojediska sagor, in seinen: »Ethnografiska föreläsningar«. Helsingfors 1857, S. 183.

4

Vgl. »Suomen Kansan Satuja«.

5

Vgl. Castrén a.a.O., S. 183.

6

Vgl. Poestion: »Isländische Märchen«, Wien 1884.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. III3-X10.
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