VI. Attjis-ene.

[38] (Aus Skjärvö.)


Es waren einmal zwei Waisen, ein Knabe und ein Mädchen. Sie bauten sich eine Hütte tief in einer Einöde und lebten da so gut sie konnten. So geschah es denn eines Tages, daß der Sohn eines Königs dorthin kam und als er das Mädchen erblickte, sich dermaßen in sie verliebte, daß er nicht so rasch wieder fortkonnte und deshalb einige Tage bei ihnen blieb. Endlich aber mußte er denn doch wieder zu den Seinigen zurückkehren und da erfuhr er nach einem Jahre, daß das Mädchen von ihm ein Kind geboren hatte, weshalb er ihr und ihrem Bruder den Befehl zuschickte, sie sollten zu ihm auf sein Schloß kommen. Da man, um dorthin zu gelangen, über einen großen See fahren mußte, so zimmerte der junge Bursche ein Boot und sie fuhren ab.

Als sie eine Strecke weit gerudert waren, kam Attjis-ene an den Strand hinabgesprungen, rief ihnen zu und bat flehentlich, sie als Magd begleiten zu dürfen. Die Schwester jedoch wollte das Anerbieten nicht annehmen.

»Ei,« sprach der Bruder, »warum kannst du sie nicht als Magd mitnehmen?« Und so wurde ihr denn erlaubt, mitzukommen.[39]

Da nun die Schwester auf dem Vordertheile des Bootes, der Bruder hinten und Attjis-ene in der Mitte saß, so konnte letztere sehr genau hören, was die beiden andern sagten, während diese dagegen einander nicht gut hören konnten. Als sie so eine gute Strecke gerudert waren, fingen sie endlich an, das Königsschloß in der Ferne zu erblicken.

»Zieh dir nun die besten Kleider an,« sprach der Bruder zur Schwester, »denn schon können wir da unten das königliche Schloß sehen«.

»Was sagt mein Bruder?« fragte die Schwester.

»Was dein Bruder sagt?« antwortete Attjis-ene, »er sagt, daß Du dir deine besten Kleider anziehen und in's Wasser springen sollst, dann wirst du zu einer Goldente«.

Die Schwester hörte nun zu rudern auf und fing an, sich zu schmücken.

»Mach rasch,« sagte der Bruder, »denn das Schloß ist schon ganz nahe«.

»Was sagt mein Bruder?« fragte wiederum die Schwester.

»Er sagt,« antwortete Attjis-ene, »daß du deine besten Kleider anlegen und in's Wasser springen sollst, dann wirst du eine Goldente und der Königssohn wird dich dann noch viel lieber haben als vorher«.

Die Schwester that, wie der Bruder sagte und sprang in's Wasser. Der Bruder wollte sie wieder herausziehen, allein ehe er sie fassen konnte, war sie in eine Goldente verwandelt und schwamm fort, während Attjis-ene alsobald das Kind ergriff, es an die Brust legte und säugte. Als sie an dem Ufer anlangten, wo das Königsschloß lag, kamen ihnen Leute entgegen, welche sie in das Schloß führten, wo aber der junge Bursche nicht zu erzählen wagte, was unterwegs vorgefallen war.[40]

Den Tag darauf jedoch nahm er das Kind und trug es an den Strand und fing an zu rufen:


Oabbatsamaj,

Boade gaddai!

Mannat tsierro,

Gussat mäkko,

Boade gaddai!


»Liebe Schwester,

Komm zum Strande!

Dein Kind weint,

Deine Kuh brüllt,

Komm zum Strande!«


Sogleich kam die Ente an's Ufer geschwommen und da der Bruder ihr das Kind entgegen hielt, verwandelte sie sich wieder in seine Schwester, nahm das Kind und säugte es. Als sie damit fertig war, gab sie es dem Bruder zurück, der zugleich auch sie selbst festhalten wollte; allein sie verwandelte sich wieder in eine Goldente und schwamm in den See hinaus.

Auf dem Rückwege nach dem Schlosse dachte der Bruder darüber nach, wie er es anfangen sollte, um seine Schwester wieder zu bekommen, konnte aber nichts ausfindig machen und beschloß daher, sich an Gieddagäts-galgjo zu wenden. Diese gab ihm den Rath, sich eine so weite Kleidung zu machen, daß zwei Menschen sie zu gleicher Zeit anziehen könnten, ohne deshalb anders als ein einziger Mensch auszusehen; dann sollte er an das Ufer hinabgehen und wie früher rufen:


»Liebe Schwester,

Komm zum Strande!

Dein Kind weint,

Deine Kuh brüllt,

Komm zum Strande!«


Der junge Mann that, wie ihm gerathen war, und als die Schwester ihm nun das Kind, nachdem sie es gestillt, zurückgab, faßte der andere Mann, den sie nicht gesehen hatte, sie[41] um den Leib und hielt sie fest. Dennoch wäre sie ihm fast wieder entschlüpft; denn bald verwandelte sie sich in seinen Händen in einen ganz kleinen Wurm, bald in eine häßliche Kröte, bald in ein Stück Seegras, bald in eine Mücke; aber in was sie sich auch verwandeln mochte, er ließ nicht los und endlich nahm sie wieder ihre menschliche Gestalt an.

Da sie nun mit ihnen nach dem Königsschlosse kommen sollte, wollte sie, wie sehr sie auch baten, durchaus nicht eher mitgehen, als bis Attjis-ene verbrannt und jede Spur von ihr mit Schwefel, Feuer und Wasser ausgetilgt wäre.

Der Königssohn wurde daher von Allem, was sich zugetragen, in Kenntniß gesetzt, so daß er alsbald eine große, tiefe Grube graben, sie mit Pech und Theer anfüllen und dies anzünden ließ. Hierauf begab er sich mit Attjis-ene dorthin unter dem Vorwande, das Feuer brennen zu sehen, und während sie um dasselbe herumgingen, gab er ihr plötzlich von hinten einen tüchtigen Stoß, so daß sie in die Grube stürzte und verbrannte. Nun machte er das arme Mädchen zu seiner Gemahlin und hielt eine prächtige Hochzeit; ich aber reiste von dort weg und weiß nicht, wie es später zugegangen ist.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 38-42.
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