Vom Könige und seinen drei Söhnen.

[26] Ein König hatte drei Söhne, von denen waren zwei verständig und einer war dumm. Einst ließ der König verkünden, daß alle Zigeuner sein Land zu räumen hätten; nach Verlauf von vier Wochen werde er herum reisen und da wolle er keinen mehr sehen. Als sich nun der Herr und König auf die Reise begab, da kam er nach Litauen und begegnete einem alten Zigeuner, der mit einem Karren her gefahren kam, und auf dem Karren hatte er ein wenig Erde. Der König sagte ›Na, Zigeuner, bist du noch da? weist du denn nicht, daß du mein Land zu verlaßen hast?‹ Der Zigeuner stellte sich auf dem Karren auf die Erde und sagte »Ich stehe auf meiner Erde1.[26] Mein Herr und König, ich will euch eine große Neuigkeit verkünden.« ›Wovon denn, mein lieber Zigeuner?‹ »Lieber König, wenn ein Jahr und ein Tag verfloßen sein wird, da werdet ihr erblinden.« Der König sagte ›Da setz dich zu mir in den Wagen,‹ und sie fuhren nach Hause. Der Zigeuner aber bekam beim Könige zu eßen und zu trinken bis ein Jahr und ein Tag verstrichen war.

Das Jahr gieng dahin und es kam der Tag und es war ein sehr sonniger Tag. Als es nun Nachmittags vier Uhr geworden, sagte der König zu seinen Dienern ›Bedeckt sich denn der Himmel mit Wolken?‹ »Ei, wo denn (antworteten diese), Herr und König, es ist ja voller Sonnenschein.« Nicht lange nachher, als es fünf Uhr war geworden, sagte der König wieder ›Ists denn schon Abend?‹ »Ei, wo denn (sagten die Diener), es ist ja erst fünf Uhr.« Nach einer kleinen Weile konnte der König schon nichts mehr sehen, da ließ er den Zigeuner rufen. ›Nun, Zigeuner, wenn du wustest, daß ich erblinden würde, so must du auch wißen, wo man solche Mittel findet, die mir mein Augenlicht wieder geben können.‹ »Ja wol, lieber König, das weiß ich auch, nur bin ich schon zu alt, um die Reise dahin zu machen, denn der Weg führt durch drei verwünschte Länder.« Der König sagte ›Ich habe drei Söhne, die werden doch hinreisen können?‹ »Ja wol, die könnten,« sagte der Zigeuner.

Da machten sich die zwei ältesten auf die Reise. Nachdem sie zwei Tagereisen zurückgelegt, kamen sie zu einer sehr schönen Stadt mit Namen Schönheit, und am Thore der Stadt stund geschrieben ›Wer in die Stadt geht und nur drei Stunden sich aufhält, der braucht nichts zu bezahlen, aber wer länger bleibt, der muß für die Stunde einen Thaler geben.‹ Als beide in die Stadt gegangen, vergaßen sie des Vaters. Der Vater, der vergeblich ihrer Rückkehr harrte, sagte zum dritten ›Begib du dich auf die Reise, mein lieber Sohn: wer weiß, wo jene beiden hin geraten sind.‹

Da machte er sich auf den Weg, und wie er an die selbe Stadt kam und die Inschrift fand, da gieng er in die Stadt hinein, sah sich um und gieng wieder heraus. Nun setzte er sich in sein Schiff und setzte seine Reise fort. Als er mit dem günstigsten Winde eine Tagreise zurückgelegt, da sah er gegen Abend eine Insel in der Ferne. Er machte mit seinem Schiffe Halt, stieg in einen Kahn und ruderte ans Ufer; denn er wollte wißen, was auf der Insel sei. Als er hin kam, fand er einen kleinen Backofen; er gieng, ans Thürchen desselben[27] und sah durch ein Löchlein hinein, da sah er drinn einen Wolf knien. Da erschrak er, aber er klopfte doch an die Thüre und lief schnell in seinen Kahn; der Wolf aber war aufgesprungen, setzte ihm nach und rief, er solle warten. Der Prinz, als er in seinem Kahne saß, dachte ›Sollst du gehen oder nicht?‹ Aber er entschloß sich doch und kehrte zum Wolfe zurück. Der Wolf sagte zu ihm ›O Mensch, was hast du mir gethan! Ich kniete hier schon neun und neunzig Jahre, aber jetzt muß ich wieder neun und neunzig Jahre knien; wärest du nicht gekommen, so hätte ich nur noch ein Jahr zu knien gehabt und wäre dann erlöst gewesen.‹ Der Prinz erzählte ihm seine ganze Angelegenheit, wie er in das und das Land reise, um ein Mittel für die Augen zu holen. »Nun, lieber Prinz, was ist zu thun? Jetzt wirst du zunächst meinen Bruder treffen, der ist ein Bär; gib Acht, daß du vor Schreck nicht niederstürzest, wenn er anfängt zu brüllen. Ich will dir aber ein Zettelchen geben, und wenn du meinst, du könntest ihm nicht entfliehen, so wirf ihm den Zettel hin, in den wird er hinein sehen und so kannst du entfliehen.«

So reiste denn der Prinz wieder weiter. Der Wind blies günstig und stark genug und so sah er denn wieder gegen Abend eine Insel in der Ferne schimmern. Er machte mit seinem Schiffe Halt, stieg in einen Kahn und ruderte ans Ufer. Als er hin kam, sah er abermals einen kleinen Backofen, und als er durch ein Löchlein hinein sah, sah er drinn einen Bären knien. Jetzt dachte er ›Sollst du klopfen oder nicht;‹ aber er meinte, mag draus werden was da will, ich werde klopfen. Er that einen Schlag an die Thüre und lief haftig auf seinen Kahn zu. Als aber der Bär aufsprang und zu brüllen anhub, da dachte der Prinz, er könne nicht mehr entfliehen und warf das Briefchen hin, das er vom Wolfe erhalten hatte. Der Bär sah in den Zettel und während dem sprang der Prinz in seinen Nachen. Der Bär rief »Prinz, komm einmal her! Es ist nicht gut, daß du hierher kamst; ich habe nun schon neun und neunzig Jahre gekniet und nun muß ich noch einmal so lange knien; aber was ist zu thun? Gott helfe dir! Aber jetzt wirst du noch zu meinem Bruder, dem Löwen kommen; nimm dich in Acht, daß er dich nicht zerreiße und daß du, wenn er anfängt zu brüllen, vor Schreck über seine Stimme nicht zur Erde stürzest. Ich will dir ein Briefchen geben, wenn du dann meinst, du könnest ihm nicht entfliehen, so wirfs ihm hin; er wird hineinsehen und du wirst entkommen.«[28]

Der Prinz reiste sodann weiter. Als er den ganzen Tag gefahren war, sah er gegen Abend wieder eine Insel in der Ferne schimmern. Er machte mit seinem Schiffe Halt, bestieg einen Nachen und ruderte ans Land. Hier sah er sich um und er sah wieder einen kleinen Ofen stehen, und als er durch ein Löchlein hinein sah, da erblickte er einen knieenden Löwen. Jetzt dachte er ›Sollst du klopfen oder nicht;‹ aber er klopfte dennoch an. Als aber der Löwe aufschrie, da lief der Prinz zurück und der Löwe hinter ihm her. Da erinnerte er sich des Briefchens und warf es hin; der Löwe griff rasch darnach und las es und rief, der Prinz solle umkehren. Da gieng der Prinz zurück zu dem Löwen, der sagte zu ihm »Na, Prinz, es ist nicht gut, daß du her gekommen bist; mit meinem Elende wärs nun bald ein Ende gewesen, und nun muß ich noch einmal so lang im Elende zubringen. Aber was ist zu thun? vielleicht wird noch alles gut. Du reisest in das Land nach Kräutern für die Augen; ich aber will dir sagen, wie du sie bekommen wirst. Wenn du zur Stadt kommen wirst, dann must du zwischen eilf und zwölf Uhr hinein gehen, denn da schläft alles was nur Leben hat; gib also ja recht Acht drauf, daß du weder zu früh noch zu spät hinein gehest. Und in der Stunde must du in das und das Haus hinein gehen, da wirst du die Kräuter auf dem Fenster finden; nimm sie weg und mach daß du wieder zurück kehrst.« So belehrt reiste der Prinz weiter.

Als er zur Stadt kam, machte er Halt, sah nach seiner Uhr, es war zehn; so wartete er denn bis um eilf. So wie es eilf Uhr schlug, gieng er in die Stadt und in das ihm bezeichnete Haus. Auf dem Fenster fand er eine Flasche mit den Augenmitteln und eine andere Flasche ganz reinen Waßers, die Flasche aber konnte man nicht ausleeren, sie war immer voll, und auf dem Tische lag ein Leib Brot. Sodann gieng er in eine andere Stube und sieh! da fand er eine schlafende Prinzessin; zu der legte er sich hin, weckte sie aber nicht auf. Sodann stund er auf und schriebs auf die untere Seite eines Tisches, daß ein Prinz aus dem und dem Lande bei ihr zu der und der Zeit gelegen. Er nahm nun den Brotleib und die Flasche mit dem Waßer, so wie die Flasche mit den Heilmitteln, gieng in seinen Nachen und machte, daß er so schnell als möglich den Rückweg antrat. Als aber der Drache, der Herr der Stadt, angeflogen kam und fand, daß ein Fremder da gewesen, zerbarst er vor Wut, und nun war alles seinen Krallen entgangen. Die Länder, die vorher verwünscht waren,[29] der Löwe, der Wolf, der Bär, alle wurden erlöst, und der Prinz reiste nun nicht zu Schiffe, sondern zu Wagen zurück. Er ließ sich deshalb einige Wagen machen und fuhr nach Hause; er führte aber seinen ganzen Reisebedarf an Speise mit sich.

Als er nicht weit mehr von der Stadt war, deren König vordem ein Löwe gewesen war, da kam der König mit seinen Soldaten und mit großer Musik ihm zu Ehren entgegen. Als man sich zu Tische gesetzt, kam beim Eßen und Trinken die Rede auf dieß und das, und der Prinz sagte ›Bei uns ists Sitte, daß wir, wenn wir irgend eine Speise genießen, grobes Brot dazu beißen.‹ Der König sagte »Aber bei uns gibt es gar kein solches Brot.« Der Prinz sagte ›Geht in meinen Wagen, bringt den Brotleib und bestellt einen starken Mann!‹ Da lachten alle die vornehmen Herren über ihn, weil er nur einen Leib Brot habe und noch dazu einen starken Mann zu bestellen angeordnet. Jetzt befahl er Brot abzuschneiden; als man aber bis zur Hälfte geschnitten, da war der Leib wieder ganz. Der König sagte »Würdest du mir den Leib wol verkaufen?« ›Nein (sagte der Prinz), verkaufen kann ich ihn nicht, aber versetzen so lange du willst.‹ Darauf gieng der König ein und gab ihm drei Fäßer voll Gold. Das packte er sich ein und reiste von dem Könige zu dem andern, der vorher in einen Bären verwandelt war. Als er nicht mehr weit von der Stadt war, empfieng ihn auch dieser König mit großen Ehren, mit Soldaten und großer Musik, und ladete ihn zum Mittagseßen ein. Als man gespeist hatte, sagte der Prinz ›Bei uns hat man die Gewohnheit, nach dem Eßen reines klares Waßer zu trinken.‹ Der König sagte »Wir haben aber kein solches Waßer.« Da schickte der Prinz seinen Diener nach der Flasche und einem großen Zuber; die Herren aber lachten über ihn, daß er aus einer kleinen Flasche einen großen Zuber zu füllen gedenke. Aber als er die Flasche auszuschütten begann, da goß er den ganzen Zuber voll, und die Flasche ward doch nicht leer. Da sagte der König »Würdest du wol die Flasche verkaufen?« ›Nein (sagte der Prinz), verkaufen kann ich sie nicht, aber für drei Faß Gold will ich sie dir leihen.‹ So ließ er denn die Flasche da, lud sein Gold auf und reiste weiter. Das dritte Land, dessen König in einen Wolf verwandelt war, besuchte er gar nicht, sondern reiste gerades Weges in die Stadt Schönheit, wo er in einer schönen Schenke, in einem Gasthofe abstieg. Nach Tische sah er, daß sehr viel Menschen in der Straße giengen; da fragte er den Wirt, warum so[30] viele Leute die Straße entlang giengen, ob etwa etwas zu sehen sei. »O ja (antwortete der), es werden zwei gehängt.« ›Könnte ich das wol auch mit ansehen?‹ »Na, warum denn nicht!« So gieng er denn auch auf den Platz hin. Als er die zwei Verurteilten erblickte, erkannte er in ihnen sogleich seine Brüder; er meldete sich deshalb bei der Obrigkeit, ob er sie nicht befreien könne. ›Ei ja, aber es kostet viel Geld; wenn einer vier Faß Gold gibt, dann werden sie frei gegeben.‹ Da ließ der Prinz vier Faß Gold bringen und nahm die zwei armen Sünder mit nach Hause in seinen Gasthof, ließ ihnen Eßen und Trinken bereiten, kleidete sie gut und gab sich ihnen als ihr Bruder zu erkennen.

Sie verweilten nicht lange mehr und begaben sich auf die Reise. Als sie ein gutes Ende Wegs zurück gelegt, da dachten die zwei Brüder ›Was wird nun geschehen, wenn wir zum Vater kommen? Der Dumme hat die Arzneikräuter und hat uns noch dazu vom Galgen erlöst; wir werden beim Vater nur mit großen Schanden bestehen.‹ So faßten sie denn folgenden Beschluß ›Nicht weit von hier ist eine Hexe, gehen wir zu ihr und laßen wir uns von ihr solche Kräuter geben, von denen der Mensch, wenn er sie auf die Augen streicht, erblindet, und die hinterlegen wir dem Bruder, dann hat er die nichtsehenden Kräuter und wir nehmen die sehenden2.‹ Sie verschafften sich auch wirklich solche Kräuter und reisten weiter. Auf der Reise schlief der Bruder vor Erschöpfung ein, und während er schlief, vertauschten sie die Heilkräuter.

Als sie nun zum Vater nach Hause gekommen, da fragte der Vater ›Wie, meine Kinder, habt ihr die Kräuter mit gebracht?‹ »Ja, Vater, wir haben sie.« ›Nun, da streicht einmal auf.‹ Die beiden nahmen ihre Kräuter und strichen auf, und der König öffnete die Augen. Jetzt schloß aber der König die Augen wieder, als sei er blind, und sagte zum dritten Sohne ›Na, mein Sohn, streich einmal von deinen Kräutern etwas auf.‹ Als dieser es that, sah der König nichts mehr. Da sagte der König ›Nun streicht ihr beide wieder von euren Kräutern auf!‹ Und sobald sie aufgestrichen, konnte der König wieder sehen. Der König ergrimmte nun so über seinen Sohn, weil er ihm solche Kräuter gebracht hatte, daß er befahl ihn sofort zu erschießen. Wie aber der Jäger mit ihm ritt und ihn von hinten erschießen[31] wollte, da versagte ihm das Gewehr. Der Prinz sagte ›Was wolltest du eben da thun?‹ Der Jäger sagte »Lieber Prinz, der König hat befohlen, ich solle dich erschießen und Herz, Leber und Lunge mit zurück bringen.« ›Na, wenn das so ist (sagte der Prinz), sieh, da ist ein Hund, erschieß den Hund, nimm sein Herz, Leber und Lunge heraus, brings nach Hause und wirfs in den Ofen, so ist die Sache abgethan; ich werde nicht mehr in die Heimat zurück kehren, auch wenn man meiner einst bedürfen wird: ich gehe zu dem Müller da und lerne als Müller.‹ Der Jäger that das, brachte die Sachen und zeigte sie dem Könige; der sagte ›Wirfs in den Ofen, da kanns verbrennen.‹

Zu der Zeit genas die Prinzessin jenes Landes, aus welchem der Prinz die Kräuter mit gebracht, eines Sohnes. Nachdem sieben Jahre verfloßen waren und der Junge heran gewachsen, sprang er ein Mal in der Stube umher und kroch unter einen Tisch; er sah in die Höhe und sah da etwas schimmern. ›Mutter (sagte der Knabe), sieh doch einmal her, was da so flimmert.‹ Die Mutter kam, sah unter den Tisch, aber sie konnte nicht verstehen, was da geschrieben stund. Da ließ sie sich vier Männer mit verbundenen Augen bringen, um die Schrift zu lesen, und als sie sie gelesen, verband man ihnen die Augen wieder und führte sie hinweg. Aus der Schrift erfuhr aber die Prinzessin, daß ein Prinz aus dem und dem Lande bei ihr gewesen sei und die Arzneikräuter, den Brotleib und die Waßerflasche mitgenommen habe. Sodann rüstete sich die Prinzessin zur Reise mit einer großen Schaar Soldaten, und eine große Menge Schießpulver nahm sie mit und zog zu jenem Könige hin und machte eine viertel Meile von des Königs Stadt Halt. Den Weg von ihr bis zur Stadt ließ sie mit rotem Scharlach belegen und die Stadt mit Pulver umschütten, und dem Könige sagen, ›Er solle in vier und zwanzig Stunden den zu ihr schicken, der von ihr die Kräuter gebracht habe, sonst laße sie die Stadt mit Pulver gen Himmel sprengen.‹ Da sandte der König sofort den ältesten Sohn zu Pferde zu ihr; als er hin geritten, fragte sie ihn ›Hast du die Kräuter gebracht?‹ »Ja,« sagte der Prinz. ›Und was weiter?‹ »Nichts.« Da sagte die Prinzessin ›Reit du nach Hause und sag deinem Vater, er solle in vier und zwanzig Stunden den schaffen, der die Kräuter gebracht.‹ Der Prinz ritt nach Hause und sagte es seinem Vater. Da sagte der Vater zum zweiten ›Nun, mein Sohn, du hast doch die Kräuter gebracht?‹ »Ja,« sagte der Sohn. ›Nun so eile und reite du zu ihr hin.‹ Und da ritt auch[32] er hin. Als das Kind der Prinzessin ihn heran reiten sah, sagte es zu seiner Mutter ›Der, wo da geritten kommt, ist mein Vater nicht; der schont den Weg und der hat auch dich geschont‹. Das sagte das Kind nämlich deshalb, weil er neben dem belegten Wege her geritten kam. Als der Prinz in die Nähe gekommen, fragte ihn die Prinzessin ›Hast du die Kräuter gebracht?‹ »Ja,« sagte der Prinz. ›Und was weiter?‹ »Nichts.« Die Prinzessin sagte ›Reit du nach Hause, und wenn in vier und zwanzig Stunden der nicht zur Stelle kommt, der die Kräuter gebracht hat, so fliegt die Stadt gen Himmel.‹

Der Prinz ritt nach Hause und sagte es seinem Vater; da wuste der König vor Sorgen nicht, wo er bleiben sollte. Jenen Sohn hatte er erschießen laßen; wie sollte er nun den finden, der die Kräuter gebracht? In tiefster Betrübnis gieng er auf dem Hofe auf und ab; da erblickte ihn der Jäger, den er abgesandt hatte, um seinen Sohn zu erschießen; und er fragte den König, warum er so betrübt im Hofe auf und ab gehe. ›Ja, lieber Jäger, ich ließ meinen Sohn von dir erschießen, und jetzt soll ich ihn schaffen, sonst werden wir alle verbrannt.‹ »Ja, lieber König, vielleicht ist er noch am Leben; ihr habt mir freilich befohlen ihn zu erschießen, aber er bat so sehr um sein Leben, daß ich ihn leben ließ; er gieng zu dem Müller da in die Lehre, und da wird er wol noch sein.« Sogleich ließ der König ihm sagen, er solle zu ihm kommen. Der Prinz aber ließ sagen ›Der König hat so weit zu mir als ich zu ihm; wenn der König mit vier Rappen wird gefahren kommen, so werde ich mit fahren.‹ Der König ließ sofort vier Rappen anspannen und fuhr zu seinem Sohne hin; da setzte sich der Prinz in den Wagen und fuhr mit seinem Vater nach Hause. Sodann ließ sich der Prinz ein Pferd scharf beschlagen, stieg auf und ritt mitten auf dem Wege so gewaltig einher, daß die Fetzen davon flogen. Als der Knabe ihn heran reiten sah, sagte er ›Na, Mütterchen, da kommt mein Vater her geritten, der schont den Weg nicht, der hat auch dich nicht geschont.‹ Als er dar geritten kam, fragte ihn die Prinzessin »Hast du die Kräuter gebracht?« ›Ja,‹ sagte der Prinz. »Und was weiter?« ›Einen Leib Brot, den konnte man bis zur Hälfte schneiden, da ward er wieder ganz; eine Flasche mit Waßer, aus der konnte man schütten und schütten und sie war doch stets voll.‹ »Gut (sagte die Prinzessin), komm her zu mir in mein Zelt!« Nachher ließ er seine Brüder von Ochsen zerreißen, den König ließ er das Pulver zusammen schöpfen und beide reisten mit einander in das[33] Land der Prinzessin. Unterwegs nahmen sie den Brotleib und die Waßerflasche mit und hielten, als sie nach Hause gekommen, Hochzeit und lebten glücklich mit einander bis zu ihrem Tode.

1

Für Erde und Land gilt im Litauischen dasselbe Wort.

2

Wörtlich übersetzt.

Quelle:
Schleicher, August: Litauische Märchen, Sprichworte, Rätsel und Lieder. Weimar: Böhlau, 1857, S. 34.
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