Vom Manne ohne Furcht.

[79] Ein reicher Vater erzog einst einen einzigen Sohn, dem er allen Willen ließ, so daß er that was er wollte und ohne alle Zucht und Strafe groß wurde und noch dazu täglich üppig aß; daher kam es, daß, als er ins Jünglingsalter getreten, er sich vor gar nichts fürchtete[79] und gar nicht wuste, was die Furcht für ein Ding sei. Er machte sich also eines Tages auf, um in die Welt hinaus zu gehen und die Furcht zu suchen. Als er schon tüchtig weit und viele Meilen weit gegangen war, kam er in ein Dorf; da stunden die Leute auf der Gaße und fragten ihn, wo er hin gehe. Er sagte ›Ich gehe die Furcht suchen, vielleicht wißt ihr, wo ich die Furcht wol finden könnte.‹ Die Männer antworteten ihm, daß sie das wüsten. Auf dem Begräbnisplatze des Dorfes stunden nämlich allnächtlich die Todten aus den Gräbern auf und tobten fürchterlich; manche kamen sogar sammt den Särgen hervor und schlugen sich an einander und Unholde trieben ihr entsetzliches Wesen mit den Todten; deshalb konnte niemand des Nachts, besonders zwischen eilf und zwölf Uhr auch nicht von weitem sich dem Begräbnisplatze nähern. So dachten denn die Landwirte ›Wart, wenn du keine Furcht hast, hier auf dem Begräbnisplatze wird dir die Furcht schon kommen.‹ Sie sagten zu ihm ›Diese Nacht must du auf dem Begräbnisplatze stehen bleiben, das wird dir Furcht machen.‹ »Gut (sagte er), wenn das geschieht, so werde ich dafür euch erkenntlich sein.« Er ließ sich auf die Begräbnisstätte führen und blieb da stehen ohne etwas andres bei sich zu haben als ein seidnes Tüchlein in der Hand, um sich die Nase ab zu wischen. Nach eilf Uhr begannen die Todten mit großem Gemurmel und Geschrei sich aus der Erde heraus zu arbeiten, manche sammt den Särgen. Da gieng ein gewaltiges Sausen und Krachen los; da heult einer, ein andrer pfeift, einer schreit, einer brummt, einen andern faßte ein Unhold sammt dem Sarge und warf ihn gegen den Sarg eines andern, aber von alle dem bekam der Mann keine Furcht. Zuletzt kam ein Todter mit seinem Sarg gerade auf ihn zu, der aber, husch! faßt ihn: »Was willst du?« Jener antwortete ›Hilf mir, ich habe das Fieber im Munde.‹ »Zeig her!« und als der im Sarge befindliche den Kopf zum Sarge heraus steckte und den Mund auf machte da, schwapp! bekam er eins drauf, daß ihm der Leib Gottes1 heraus fiel. Diesen Leib Gottes hatte ihm der Pfarrer, kurz ehe er starb, gereicht; weil er aber sein ganzes Leben hindurch ein entsetzlicher Betrüger und Gauner gewesen, so konnte er den Leib Gottes nicht hinunter schlucken und er blieb ihm im Munde stecken und so war er gestorben. Als der Mann das erfahren und den Leib Gottes in sein seidnes Tüchelchen[80] eingewickelt hatte, sagte er ›Geh fort von mir, du Scheusal!‹ Da faßte ein Teufel den Todten und schleuderte ihn hin, daß er sich ein paar Mal mit seinem Sarge überschlug und wer weiß wie viele andre nieder warf. Früh kamen die Landwirte und fragten, wie es ihm ergangen sei. Er lachte über alle die Erscheinungen und sagte »Allerdings tobten da die Todten mit den Unholden gewaltig, aber ich empfand darüber auch nicht die geringste Furcht.« Für die Gefälligkeit gab er den Wirten aber doch ein paar Maß Brantwein und reiste sodann weiter.

Als er abermals mehrere Meilen weit gereist war, kam er in ein Kirchdorf; und als er in ein Wirtshaus einkehrte, fragte ihn der Wirt, wohin er reise. Er antwortete, daß er gehe die Furcht suchen. Da sagte ihm der Wirt ›Gut, daß du hierher gekommen bist; in unsrer Kirche kannst du Furcht bekommen so viel du willst, denn in unserer Kirche machen jede liebe Nacht die Teufel mit den Todten einen entsetzlichen Lärm: sie werfen sich mit Stücken von Ziegeln und andern Dingen und manche Todten kommen sogar mit den Särgen in die Kirche gepoltert, da pfeifen und schreien und heulen sie.‹ Der Fremde blieb auch in der Kirche über Nacht. Als er hinein gieng, schloß er die Thüre zu und setzte sich in eine Ecke. So bald es nur Nacht ward, fiengen die Ziegelstücke an zu fliegen, und bald war ein Gepolter zu hören, als ob Pferde liefen. Dann erschienen zwei Särge und gegen Mitternacht kamen auch einige Teufel und begannen sich mit den Gespenstern herum zu tummeln und ihr entsetzliches Wesen zu treiben; da machten sie überall ein solches Geprassel und Gekrache, daß man meinte, die ganze Kirche müße einstürzen. Der Mann aber saß in seiner Ecke und fragte nach dem allen gar nichts, er beachtete es auch nicht im geringsten. Als sie schon lange in der Kirche auf diese Art ihr Wesen getrieben, wollte ein kleiner Teufel ganz sachte an den Mann heran schleichen; der aber erblickte ihn sogleich, nahm schnell den Leib Gottes aus seinem Tüchel, machte ihn mit Speichel naß und als der Unhold so nah an ihn heran geschlichen war, daß er ihn erwischen konnte, nahm er den Leib Gottes und klebte ihn dem Teufel ans Kinn. Ei erhob da der Teufel ein Geschrei und Gebrüll, daß man es nicht aushalten konnte, denn der heilige Gegenstand brannte ihn ärger als Feuer, und nun begann er den Mann zu flehen, so viel er nur vermochte, immer vor ihm auf den Knien liegend, er solle ihm das Ding, das er ihm angeklebt, doch wieder abnehmen. Der Mann[81] sagte ›Geh und trag die beiden Särge mitten in die Hölle!‹ Der Teufel that das, und als er noch immer schreiend wieder zurück kam, sagte der Mann ›Ich kann dir doch keinen Glauben schenken; so nimm die Kirchenthür, heb sie aus und leg sie auf dich; ich werde mich auf die Thüre setzen und du must mich bis an die Pforten der Hölle tragen, damit ich die zwei Särge sehe.‹ Schnell that das der Teufel und trug den Mann bis an die Pforten der Hölle, so daß er sehr gut in die Hölle hinein sehen konnte, und die beiden Särge waren gerade in der Mitte der Hölle aufgestellt. Als der Mann das gesehen, sagte er zum Teufel ›Jetzt trag mich wieder in die Kirche, dann wirds gut sein.‹ Der Teufel that dies auch und dann nahm ihm der Mann den Leib Gottes vom Kinn und der Teufel verließ voller Freude sogleich die Kirche und versprach nie wieder zu kommen. Und von der Zeit an zeigte sich in der Kirche nichts mehr, und es war nichts mehr zu hören. Früh kam der Wirt mit dem Glöckner, um die Kirche aufzuschließen, in der Meinung, daß sie den Fremden todt oder vielleicht halb todt finden würden; aber sieh! er saß in seiner Ecke ohne alle Furcht, und als ihn die beiden fragten, wie es ihm hier in der Kirche gewesen, ob er sich nicht gefürchtet habe, da sagte er ›Ach, vor was kann man sich denn da fürchten! Es kamen und erschienen da solche Possen; ich habe sie aber sämmtlich so verscheucht, daß sie nicht wieder kommen werden.‹ Da sagte der Wirt zu ihm ›Wenn du hier keine Furcht gefunden hast, so kannst du durch die ganze Welt gehen ohne sie zu finden.‹ Als dann die Leute des Kirchdorfes das alles erfuhren, versammelten sie sich und dankten dem Manne herzlich dafür, daß er aus ihrem Kirchlein all das böse Wesen ausgetrieben habe.

Der Mann aber, der nunmehr wol sah, daß er nirgends Furcht werde finden können, trat den Heimweg an, und nach langer Reise kam er nach Hause, und da er müde und erschöpft war, legte er sich ins Bett und schlief da süß. Ehe er aber eingeschlafen war, hatte er seinem Vater und seiner Mutter erzählt, daß er weit weg gewesen sei, aber keine Furcht habe finden können. Während er so schlief, kam eine Bettlerin, die fragte der Vater, ob sie nicht wiße, wie man einem Menschen Furcht bereiten könne; er habe einen Sohn, der sei eben von einer langen Reise zurück gekehrt, auf der er gewesen, um Furcht zu suchen, aber er habe sie nirgend gefunden. Die Bettlerin sagte ›Ei, versucht es doch einmal, während er schläft, ihn mit kaltem Waßer[82] zu übergießen, da wird er vielleicht erschrecken und Furcht bekommen.‹ Sogleich holte der Vater einen Eimer kalten Waßers und goß ihn, plumps! auf einmal über seinen Sohn aus. Der sprang, husch! aus dem Bette und schrie heftig auf, indem er zitterte ›Hui! jetzt bin ich sehr erschrocken; jetzt weiß ich schon, was Furcht für ein Ding ist.‹ Und von der Zeit an, seit dem Übergießen mit Waßer, fürchtete er sich eben so wie viele andere Narren.

1

Die Hostie.

Quelle:
Schleicher, August: Litauische Märchen, Sprichworte, Rätsel und Lieder. Weimar: Böhlau, 1857, S. 83.
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