Von den neun Brüdern.

[35] Neun Brüder hatten eine einzige Schwester. Alle neun wurden Soldaten. Der älteste kaufte beim Weggehen seiner Schwester, die dazumal noch klein war, einen goldenen Ring. Als das Mädchen groß geworden war, fand es im Schreine den Ring und fragte seine Mutter ›Mutter, wer hat denn den Ring gekauft und hierher gelegt?‹ Die Mutter sprach »Kind, du hattest neun Brüder und der älteste hat dir den Ring gekauft.« Da bat das Mädchen seine Mutter, sie solle es doch ziehen laßen, seine Brüder zu besuchen. Die Mutter willigte ein und spannte ein kleines Rösslein vor ein kleines Wägelchen, und so fuhr sie von dannen. Da begegnete ihr ein Häschen, das bat ›Onutte, Schwesterchen, laß mich mitfahren!‹ Da ließ sie das Häschen in den Wagen und sagte ›Duck dich hinten auf!‹ So fuhren sie denn beide weiter und kamen an das Meer, in dem Meere da badeten sich Laumes am Ufer. Onutte aber war gar fein angezogen und hatte ihr Ringlein am Finger. Als die Laumes sie so mit dem Häschen fahren sahen, da riefen sie ›Komm her zu uns, Onutte, komm dich baden, bei uns fließt ein Strom von Milch, und aus dem Ufer roter Wein.‹ Aber das Häschen warnte ›Onutte, Schwesterchen, geh nicht zu ihnen, im Strome fließen Thränen, und aus den Ufern fließt Blut.‹ Da sprang eine Laume ergrimmt aus dem Waßer und riß dem Häschen die beiden Hinterfüßchen aus. Sie fuhren ein Ende weiter, da rief eine andere Laume also ›Onutte, komm her zu uns dich baden, bei uns fließt ein Strom von Milch, und aus den Ufern fließt roter Wein.‹ Das Häschen aber warnte wieder wie zuvor. Da sprang wieder die Laume aus dem Waßer, zerriß das Häschen und warf es vom Wagen. Das Mädchen fuhr nun eine[35] lange Strecke längs des Waßers, und als wieder eine andere Laume rief, da gieng es diesmal wirklich zu ihnen hin sich zu baden. Als es sich entkleidet und nur den Ring am Finger gelaßen hatte, da sagte die Laume ›Onutte, Schwesterchen, ich werde dich in eine Laus verwandeln und mich in einen Floh, welche von uns beiden dann zuerst aus dem Waßer kömmt, die soll deine schönen Kleider anlegen, welche aber zuletzt, die muß den alten Schleimpelz anziehen.‹ Natürlich gewann die Laume, und sie zog die schönen Kleider an, und Onutte muste sich in den Schleimpelz hüllen; den Ring aber behielt sie am Finger und die Laume bemerkte ihn nicht.

So fuhren sie denn weiter, Onutte weinte bitterlich. Die Laume fragte sie ›Wo fährst du hin?‹ Da sagte sie der Laume, daß sie zu ihren Brüdern zum Besuche fahre. Bald kamen sie an einen großen, großen Hof, da gieng die Laume hinein und fragte ›Sind hier neun Fenster, sind hier neun Tische, sind hier neun Töpfe, sind hier neun Schüßeln und neun Löffel?‹ Und endlich fragte sie ›Sind hier neun Brüder?‹ Die Schenkerin antwortete »Hier sind weder neun Fenster, noch neun Tische, noch neun Töpfe, noch neun Schüßeln, noch neun Löffel, noch neun Brüder.« Da fuhren sie weiter zu einem anderen Hofe, die Laume gieng hinein und fragte wie zuvor. Hier waren die neun Brüder; der älteste Bruder, der am Fenster stund und die Laume so reden hörte, holte gleich die anderen Brüder herbei und sagte ›Das muß unsere Schwester sein.‹ Da ward die Laume ehrenvoll empfangen, sie muste sich hinter den Tisch setzen1 und ward reichlich bewirtet. Da fragte der älteste Bruder ›Wer ist denn die welche in dem Wägelchen sitzt?‹ Die Laume sprach »Als ich den Meeresstrand entlang fuhr, da setzte sich eine Laume auf, die ich mitfahren ließ.« Die Brüder meinten ›Nun, die kann aufs Feld gehen die Pferde hüten.‹ So geschah es denn auch. Wie sie nun so die Pferde hütete, da wollte des ältesten Bruders Pferd nicht freßen. Da sang sie das Liedchen:


Ei, mein Rösslein, ei mein Brauner,

Warum willst du denn nicht freßen

Auf der Wiese grüne Kräuter?

Warum willst du denn nicht trinken

Von des Stromes klarer Welle?
[36]

Da hub das Ross an zu reden, und sagte:


Was soll grünes Gras ich freßen?

Warum trinken Stromes Welle?

Jene Laume, jene Hexe

Trinkt ja Wein mit deinen Brüdern,

Und du, deiner Brüder Schwester,

Must indes die Pferde hüten.


Der älteste Bruder, der auf dem Felde war, hörte das Liedchen singen, kam herbei und sprach ›Laume, Hexe, komm her und such mir den Kopf ab!‹ Bitterlich weinend kam sie herbei. Während sie ihm den Kopf absuchte, sah der Bruder den Ring und fragte ›Wo hast du den Ring her?‹ Da erzählte sie ihm alles, wie es hergegangen und wie sie von der Laume betrogen worden sei. Da fiel der Bruder vor Herzeleid in Ohnmacht, und als er wieder zu sich gekommen war, führte er seine Schwester nach Hause, kaufte ihr schöne neue Kleider und sie muste sich rein waschen und sich sauber anlegen. Da erzälte der älteste Bruder den andern Brüdern, wie die Laume ihre Schwester und sie alle betrogen habe, und sie sprachen ›Was für eine Qual thun wir der Laume an?‹ Da nahmen sie ein Pferd, bestrichen es mit Pech, stellten es hart vor die Thüre und sprachen ›Laume, Hexe, geh heraus aus der Stube!‹ Die Laume sagte »Ei, Herr, ich kann nicht heraus, ein Pferd steht vor der Thüre.« ›Schlags mit der Hand, so wirds weggehen.‹ Sie schlug, da blieb die Hand am Peche kleben. Da sagten sie wieder ›Tritt mit dem Fuße!‹ Sie trat zu und der Fuß blieb auch kleben. ›Schlag mit der andern Hand!‹ und die blieb auch kleben. ›Tritt mit dem andern Fuße!‹ der blieb auch kleben; zuletzt muste sie noch mit dem Bauche stoßen und der blieb auch kleben. Da nahmen die Brüder eine gute Gerte, schlugen das Pferd und sagten


Lauf, mein Rösslein,

Lauf, mein Brauner,

Über die Heide!

Lauf bis ins Meer und spül dich ab!


1

Der Ehrenplatz der Gäste.

Quelle:
Schleicher, August: Litauische Märchen, Sprichworte, Rätsel und Lieder. Weimar: Böhlau, 1857, S. 37.
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