Von der schönen Königstochter.

[10] Es war einmal ein König, der hatte eine sehr schöne Gemahlin, die hatte um die Stirne herum die Sterne, oben auf dem Kopfe die Sonne und am Hinterhaupte den Mond; aber sie starb bald. Es hatte aber der König eine eben so schöne Tochter, wie seine Frau war. Und der König reiste rings umher, eine andere Frau zu suchen, aber er fand keine so schöne wie seine erste Frau, und deshalb wollte er seine eigene Tochter heiraten; die aber wollte ihn nicht. Nun konnte sie ihn aber nicht bewegen von ihr zu laßen; da gab sie ihm auf, er solle ihr kaufen einen Läusemantel (einen Mantel mit Läusefellen gefüttert), ein silbernes Kleid, einen demantnen Ring und goldne Schuhe. Und der König gab ihr alle diese Dinge. Der König hatte aber auch eine alte Ausgedingerin (Altsitzerin). Abends vor der Hochzeit fragte die Königstochter die Alte, was sie jezt thun solle. Die riet ihr alles zusammen zu packen und das Weite zu suchen; und so gieng sie denn Nachts von dannen. Des Morgens suchte der König sein Mädchen, fand es aber nicht und fragte sein ganzes Gesinde ›Sahet ihr nicht, sahet ihr denn nicht meine Braut?‹ Aber niemand konnte ihm Auskunft geben. Als aber in jener Nacht die Königstochter weg gieng, kam sie zu einem Fluße, und da sollte sie ins Schiff steigen; der Ferge aber wollte sie nicht fahren und sagte ›Wenn du nicht versprichst mich zu nehmen, so ertränke ich dich zur Stelle.‹ Aber[10] sie wollte den auch nicht. Da warf er sie aus dem Schiffe und sie sprang ans Ufer des Waßers. Sie gieng nun weiter, ohne zu wißen wohin; da kam sie zu Steinen1 und sagte ›Ach, lieber Gott, wenn sich doch hier eine Stube aufthäte!‹ Da that sich auch wirklich eine Stube auf; in die gieng sie hinein, und alles war da so, wie sie sich es nur gewünscht hatte. Früh gieng sie sodann wieder heraus, ließ aber in der Stube ihre prächtigen Kleider, und alles war wieder Stein wie vor dem. Dann gieng sie in ein Gehöfte und verdang sich bei der Frau vom Hause als Aschenbrödel. Da war auch ihr Bruder, denn er war auch von seinem Vater weg gegangen und war auf dem Gehöfte als Schreiber, und er hatte einen Bedienten, und wenn er seinem Bedienten hieß, er solle ihm Waßer oder seine Stiefel bringen, da lief immer Aschenbrödel und brachte es ihm, und so oft sie es ihm brachte, warf er es ihr jedes Mal nach den Fersen. Darauf bat sie ihre Herrin, sie möge sie doch hier und da ein Mal nach Hause gehen laßen; sie gieng aber nicht nach Hause, sondern zu jenen Steinen, und wenn sie in die Nähe der Steine kam, da thaten sich die Steine wieder auf und es war wieder eine Stube, und sie zog dann stets ihre prächtigen Kleider an, und es kam alle Mal eine Kutsche gefahren, in die setzte sie sich und fuhr in die Kirche. Der Schreiber aber war auch in der Kirche, und er sah dort das wunderschöne Mädchen und kam deshalb den zweiten Sonntag wieder in die Kirche, und das Mädchen war auch wieder da. Aber ihre Herrin hatte ihr gesagt, sie müße eher nach Hause kommen als der Schreiber. Eines Tages jedoch verspätete sie sich, und da sie nicht mehr Zeit hatte ihre prächtigen Kleider abzulegen, zog sie zu Hause Alltagskleider über jene prächtigen an. Da ließ sie der Schreiber durch den Bedienten rufen: sie solle kommen und ihm den Kopf absuchen2, aber sie wollte nicht und sagte ›Man hat meiner bisher noch nie bedurft, und man bedarf meiner auch jezt nicht.‹ Als aber der Bediente zum zweiten und dritten Male sie rief, da muste sie doch gehen. Wie sie ihm nun den Kopf absuchte, da durchsuchte er ihre Kleider und kam bis zu jenem Mantel.[11] Und als er den Kopf von ihren Knien erhob, da riß er ihr das Kopftuch vom Kopfe und erkannte sogleich in ihr seine Schwester. Darauf verließen beide das Gehöfte, aber niemand wuste, wohin sie giengen.

1

Die Erzählerin nennt ›Steine‹ was wir ›Felsen‹ nennen würden. Eigentliche Felsen sind in Litauen nicht vorhanden, wol aber gibt es große Massen erratischer Blöcke, und diese hat wol die Erzählerin vor Augen.

2

Diese Liebeserweisung ist in den litauischen Märchen die gewönliche Einleitung von Erkennungsscenen.

Quelle:
Schleicher, August: Litauische Märchen, Sprichworte, Rätsel und Lieder. Weimar: Böhlau, 1857, S. 12.
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