[131] 308. Das Gespenst im Bachbusch bei Lenningen.

In dem Wäldchen genannt »Bachbusch« oberhalb Lenningen erscheinen des Nachts gegen die Geisterstunde zwei verschleierte Mädchengestalten, die den nächtlichen Wanderer in die Mitte nehmen und bis zum Ausgang des Waldes stillschweigend begleiten, wo sie alsdann plötzlich verschwinden. Ein Mann aus Lenningen, der sie gesehen haben will und den sie ebenfalls von der Brücke an bis zum Ende des Waldes begleitet haben sollen, erzählte mir über diese geheimnisvolle Erscheinung folgendes:

Ein junger Mensch aus Lenningen hatte in dem benachbarten Kanach eine Liebschaft. Er ging wöchentlich mehrere Male dorthin und kehrte zuweilen des Nachts recht spät nach Hause zurück. Nun geschah es, daß der Junge seiner ersten Liebe untreu ward und sich einem andern, wenngleich hübschern, doch hochmütigern Mädchen zuwandte. Die erste Geliebte wollte vor Gram vergehen, als sie die schnöde Untreue ihres Geliebten erfuhr, und irrte des Abends, wenn bereits der Mond hinter den Bergen heraufgestiegen, wie wahnsinnig durch Feld und Wald.

Eines Abends, es war schon spät, war sie aus der engen Stube hinausgeeilt, um ihrer beklommenen Brust Luft zu machen; da gewahrte sie, wie ihr früherer Geliebter Arm in Arm mit seiner neuen Liebschaft daherkam und den Weg durch den Wald einschlug. Leise und ohne bemerkt zu werden folgte sie beiden und vernahm nun, wie schändlich sich der junge Bursche gegen sie ausließ: sie sei eine abscheuliche Dirne, die mit Hunderten zugleich buhle und zudem arm sei wie eine Kirchenmaus und andres mehr. Das war der aufrichtigen, ungeteilten Liebe des braven Mädchens zu viel; sie ging und warf sich in der Verzweiflung in den hoch angeschwollenen Waldbach. Des andern Morgens fand man ihre Leiche hinter einem alten Weidenstamm des Waldes, wohin das Wasser sie getrieben. Als der Bursche von dem Selbstmord[131] seiner früheren Geliebten hörte und einsah, daß nur seine Untreue das arme Mädchen zu diesem Akt bewogen, entsetzte er sich, verfiel in ein Fieber und starb kurze Zeit nachher. Das andere Mädchen, über diesen Verlust gänzlich untröstlich, ward von einer schleichenden Krankheit befallen und folgte dem jungen Mann einige Wochen nach dessen Hinscheiden ins Grab.

Heute nun kommen beide Mädchen als Geister zurück und machen, wie ehedem, den Weg zusammen bis zum Ausgange des Waldes, wo sie alsdann verschwinden.


J. Weyrich

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 131-132.
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