[134] 313. Der Herr von Stolzenberg.

A. An den heiligen Tagen des Jahres wandelt in Gedanken vertieft der Herr von Stolzenberg nächtlich an einer Ecke des Waldes nahe dem Kiem bei Grevenmacher. Wenn er müde ist, setzt er sich auf die Rasenbank am dortigen Brunnen nieder, schlägt ein großes Buch auf, das er allzeit bei sich trägt, und ruht aus. Er ist groß von Gestalt, trägt einen dreieckigen Hut und hat ein greuliches Aussehen.


N. Gonner


B. Im Grevenmacherer Wald, am Römerkiem, erscheint in hochfestlichen Nächten nach zwölf Uhr, in altfränkischer Jägertracht, eine Geistergestalt, die betrübt und in Nachdenken vertieft am Wege auf und ab wandelt. Bald nachher naht vom Berge her eine Jungfrau, die sich dem Geiste in die geöffneten Arme stürzt. Da plötzlich ertönt, ebenfalls vom Berge her, gellender Hörnerschall. Eilends fliehen beide in den Wald, in dem sich ein furchtbares Geräusch erhebt, untermischt mit Ächzen und Stöhnen. So lärmt und braust es durch den Wald, bis vom Buchholzer Hof herunter der Hahnenschrei den anbrechenden Morgen verkündet. Dann ist alles still.

Vor langer Zeit, heißt es, soll hier die Ritterburg Stolzenberg gestanden haben. Des Grafen Töchterlein hatte sich in den schönen Jägerburschen des Schlosses verliebt, und die Zutraulichkeit der Liebenden wuchs endlich so, daß sie eine Zusammenkunft im Walde verabredeten. Die festgesetzte Stunde war Mitternacht. Kaum aber hatte sich das Fräulein vom Schlosse entfernt, als sie auch schon vermißt wurde. Der jähzornige Graf schwang sich sofort auf sein Pferd und eilte mit Gefolge in den Wald. Bald hatte er die Liebenden aufgefunden, die sich ihm flehend zu Füßen warfen; aber von seinem Schwerte durchbohrt, brachen beide im Todeskampfe zusammen. Den Grafen aber reute seine Tat, und er zog als Pilger zum gelobten Lande.

Längst ist die Burg Stolzenberg spurlos verschwunden; aber noch immer läßt den Grafen der Doppelmord die Grabesruhe nicht finden.


Manuskript des Notars Ritter

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 134.
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