XXXVI. Von einem Jungen, der aus dem Elternhause floh.

[92] Es war einmal ein Junge; dessen Eltern waren arme Leute. Einst schickten sie ihn fort, Öl zu kaufen; er verspielte aber unterwegs das Geld für das Öl. Darauf wagte er sich nicht nach Hause, denn er hatte Angst, dass seine Eltern ihn durchprügeln würden. Er begab sich an das Seeufer bei der Stadt; dort lag gerade ein Schooner mit zahlreichen Matrosen, denen er lange Zeit zusah. Schliesslich rief man ihm zu, er solle doch mit ihnen essen; sie machten ihn aber betrunken und schlössen ihn ein und vergassen ihn. Mittlerweile fuhr der Schooner ab, und man liess ihn in seinem Gefängnisse.

Als er ausgeschlafen hatte, klopfte er, damit man ihm öffne. Schliesslich stieg er (in einer fremden Gegend) ans Land; er hatte aber nichts zu essen. Der Kapitän hatte ihm ein klein wenig Geld gegeben: so ging der Junge denn auf einen Laden los; der Besitzer des Ladens versetzte ihm aber einen Fusstritt und jagte ihn hinaus. Die Nacht brach ein, und er hatte keine Unterkunft; er fand eine Nische an einem grossen Prachtbaue und legte sich in ihr zum Schlafen nieder.

Gegen Mitternacht kamen vier Leute und öffneten das Tor des Palastes. Einer von ihnen guckte in die Nische hinein und sprach zum Jungen: »Was machst du hier?« Der Junge versetzte: »Ich sitze hier; ich ruhe mich aus, weil ich keinen Ort zum Schlafen gefunden habe.« Jener Mann hielt ihn jetzt fest, und man nahm ihn mit. So gelangte der Junge in diesen Palast. Daselbst befand[92] sich, eine Tote; diese trug eine Menge Goldgeschmeide; die Leute aber befahlen dem Jungen, er solle hinuntersteigen und die Tote des Goldes berauben. Er wollte zuerst nicht hinuntersteigen, aber schliesslich wurde er dazu gezwungen. Sie befahlen ihm, der Toten alles jenes Goldgeschmeide abzunehmen, und dann, als er ihnen das gesamte Gold gegeben hatte, schlössen sie ihn unten ein. Nun konnte er also nicht ans Tageslicht emporsteigen. Da begann er eine Leiter aus Särgen zu bauen und stieg auf ihr wieder empor. Als er oben angekommen war, bemerkte er ein goldenes Halsband am Halse der Toten und stieg wieder hinunter um es ihr abzunehmen. Als er das getan, verliess er die Stätte.

Dann suchte er nach einem Dampfer, auf dem er nach seinem Vaterlande zurückreisen könnte; er fand aber keinen. Er begab sich nun zu einem Juwelier und fragte ihn: »Was ist dieses Halsband wert?« Jener erwiderte: »30 Francs.« Dann begab er sich zu einem Kleiderhändler, zu dem er sprach: »Verkaufe mir einen Anzug!« Der Besitzer des Ladens sah sich den Jungen an und warf ihn hinaus. Dieser begab sich ans Meer und fand daselbst einen Schooner, der im Begriffe war abzusegeln. Er stieg an Bord des Schooners, und dieser fuhr alsbald ab.

Als das Schiff auf das hohe Meer gelangt war, erhob sich ein grosses Unwetter. Man forderte den Jungen auf zu beichten; er wollte aber nicht beichten. Als der Kapitän nun seinen Leuten mitteilte, dass der Junge nicht beichten wolle, stiessen sie ihn in eine Tonne hinein und warfen ihn aus dem Schiffe; der Sturm trieb ihn aber gegen das Land. Am Ufer weideten gerade Kühe. Als nun die Tonne ans Ufer getrieben war, kam eine Kuh, die sich dort befand, an die Tonne heran und rieb sich an ihr; die Tonne klemmte hierbei ihren Schwanz fest. Als die Kuh nun zu zerren begann, zerbrach sie die Tonne. Nun kroch der Junge aus der Tonne heraus, ass und trank zunächst etwas und begab sich dann nach seiner Heimat.

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 92-93.
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