102. Herrchen von Maldeghem.

[153] Altes Volkslied. Der Sage folgend, von dem neunten Verse an fortgesetzt von Prudenz van Duyse.


1.

Mynheerken van Maldeghem

ghincer al uitter jaghen

dry mylkens buitten Brügghe,

daer stonter een linde breet;

hy en vont niets ter jachte

als een herderke cleene,

hy moest hem teghen comen,

het was hem lief of leet.
[153]

Herrchen van Maldeghem

das ging wohl aus zu jagen

drei Meilen draußen vor Brügge,

da stand eine Linde breit;

es fand nichts zu jagen,

als ein Hirtchen kleine,

es mußt ihm gegenkommen,

es war ihm lieb ob leid.




2.

Wel herderken, wel herderken,

ick souder u geiren vragen,

wat wonder avontuere

is in dit bosch te zien;

van waer comt desen horen,

desen overschoonen horen?

als ick hem lest aenschouwde,

hy behoorde aen miin.


Wohl Hirtchen, wohl Hirtchen,

ich möcht dich gerne fragen,

was wunder Abentheuer

wohl in dem Busch zu sehn;

von wo kommt dir dieß Horn,

dieß überschöne Horn?

als ich zuletzt es schaute,

gehörte es mein.


3.

Mynheerke van Maldeghem,

ghaet hier uit onsen strate,

want desen schoonen horen

en gaet er u niet aen;

blies ick op minen horen,

myn overschoonen horen,

de XXXVI Ceteleirs

al souden wezen gram.


Herrchen von Maldeghem,

geht hier aus unsrer Straßen,

denn dieses schöne Horn

es geht euch gar nichts an;

bließ ich auf meinem Horn,

meinem überschönen Horn,

die sechs und dreißig Kesselflicker,

die würden drob gar gram.


4.

Mynheerken van Maldeghem,

en wildet niet gelooven,

hy naem ende sette hem

aen zynen rooden mont;

die XXXVI Ceteleirs

quamen uit 't bosch gespronghen,

gelic de wilde hasen

voor eenen temmen hont.


Herrchen von Maldeghem,

wollt das nit glauben,

es nahm und setzte es

an seinen rothen Mund.

Die sechs und dreißig Kesselflicker

kamen aus dem Busch gesprungen,

gleichwie die wilden Hasen

vor einem zahmen Hund.




5.

Hout op, o Cameraden

van Cappen ende Kerven

en flaeter toch mynheerken

van Maldeghem niet doot;

ick heb met hem ghereden

door dorpen ende steden,

seven jaer gedronken

en gheten van zyn broot.
[154]

Haltet an, o Kameraden,

mit Kappen und mit Kerben,

und schlaget doch das Herrchen

von Maldeghem nicht todt;

ich bin mit ihm geritten

durch Dörfer und durch Städte,

hab sieben Jahr getrunken

und gegessen von seinem Brot.


6.

Mynheerken van Maldeghem

die schooter al in zyn tasche

ende gaf dry goude penninghen

aen desen herder coen;

»Wy syn ons sesendertigh

mannen van avonturen,

er es voor d'een of dander

gheen cousen ofte schoon.«


Herrchen von Maldeghem,

der griff wohl in seine Tasche

und gab drei goldne Pfennige

an diesen Hirten kühn;

»Wir sind unsrer sechs und dreißig

Männer von Abentheuer,

das ist für den einen ob den andern

keine Strümpfe oder Schuh.«


7.

»Mynheerken van Maldeghem,

ghy moet er ons hier beloven,

geheel vaste ghaen beloven

al op uwe eerlykheit:

dat ghy het niet en sult segghen,

oft met gheen penne schriven,

als dat den bosch van Maldeghem

met roovers is beleit.«


»Herrchen von Maldeghem,

du mußt uns hier geloben,

fest es uns geloben

wohl auf deine Ehrlichkeit:

daß du es nicht willst sagen,

mit keiner Feder es schreiben,

daß der Wald von Maldeghem

mit Räubern ist belegt.«




8.

Mynheerken van Maldeghem

die heft stille ghesweghen,

hy en heft het met gheen pennen

geschreven ofte geseit,

maer heft met sinen voete

tot Brugghe in sant gheschreven,

als dat den bosch van Maldeghem

met roovers lag beleit.


Herrchen von Maldeghem

das hat still geschwiegen,

er hat es mit keiner Feder

geschrieben ob gesagt,

aber hat es mit seinem Fuße

zu Brügge in Sand geschrieben,

daß der Wald von Maldeghem

mit Räubern wäre belegt.


9.

Mynheerken van Maldeghem

rieper al tot de sinen:

»Die XXXVI Ceteleirs

grypt se maer by der keel;

ende doet aen ieder harer

eenen ysern halsband vaste

in d'onderaerdschen kerker

op't Maldeghems Casteel.«
[155]

Herrchen von Maldeghem

rief wohl zu den Seinen:

»Die sechs und dreißig Kesselflicker,

greift sie nur bei der Kehl,

und macht an jeden von ihnen

ein eisern Halsband feste

im unterirdischen Kerker

auf Maldeghems Castell.«


10.

»Ende geeft se en brootjen

ende en cruicke water

in d'onderaerdschen kerker

ende metselt d'inganc dicht.«

»Mynheerken van Maldeghem,

schenkt ooc ghenade en metselt

in d'onderaerdschen kerker

den inganc toch niet dicht!«


»Und gebt ihnen ein Brötchen

und ein Krüglein Wasser

in dem unterirdischen Kerker

und vermauert den Eingang dicht.«

»Herrchen von Maldeghem,

schenk auch Gnad und vermauer

in dem unterirdischen Kerker

Den Eingang doch nicht dicht!«




11.

Mynheerken van Maldeghem

en woonde na dien tide

op sinen ouden casteele

gheen langhe dagen meer:

den kerker bleefer gesloten,

de linden standen te groene,

den eenen steene vieler

oppe den anderen nêed.


Herrchen von Maldeghem

wohnte nach der Zeit

auf seinem alten Schlosse

nicht lange Tage mehr;

der Kerker blieb geschlossen,

die Linden stunden so grüne,

der eine Stein der fiele

wohl auf den andern nieder.


12.

In d'onderaerdschen kerker

spookter het nog alle nachten,

men sieter noch de mueren

met d'yseren halsbant aen.

O reissgher comter 'savonts,

maekt stille 't cruise des heeren

ende stapt wat seerder over

de Maldeghemsche baen.


Im unterirdischen Kerker

da spukt es noch alle Nächte,

man siehet noch die Mauern

mit dem eisernen Halsband dran.

O Wandrer, kommst am Abend,

mach still das Kreuz des Herrn

und schreite schneller fort auf

der Maldeghemschen Straß'.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 153-156.
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