[168] 114. Schloß Bouillon.

[168] Aus handschriftlichen Quellen.


Herr Gilbert von Ardennen war ein edler und tapferer Ritter. Wenige Zeit nach dem Tode Karls des Großen verirrte er sich auf der Jagd und kam nach vielem Wandeln endlich an einen steilen Felsen, der sich mit rauher Stirne aus der Mitte eines lieblichen Thales erhob; seinen Fuß bespülte das Bächlein Semoy. Herr Gilbert war müde und legte sich in das frische Grün, um in etwa auszuruhen, als plötzlich eine wunderholde Frauenstimme, welche ein trübes Lied sang, an sein Ohr schlug. Er erhob sich, drang durch das von allen Seiten ihm hemmend entgegentretende Gebüsch nach dem Orte, von wo die Stimme zu kommen schien, und fand daselbst eine Jungfrau von seltener Schönheit, die unter Schluchzen und Seufzen mit dem langen blonden Haare sich die Thränen trocknete, welche reichlich ihren Augen entströmten. Als sie den Ritter erblickte, da hob sie flehend ihre Hände und streckte sie gegen ihn aus. Da fragte Herr Gilbert: »Wer seid ihr, edle Jungfrau, und wie kommt es, daß ihr diese Wüste bewohnet?«

»Sprechet leise«, antwortete sie. »Ich bin Julia von Bouillon und aus der kleinen Stadt gebürtig, welche am Fuße dieser Felsen liegt. Der Riese, welcher hier wohnt, der Sohn des grausamen Ferragus, hat meinen Vater und meine Brüder getödtet und mich als seine Gefangene mitgeschleppt. Oft schon wollte er mir Gewalt anthun, aber ich bat mit lauter Stimme zu Gott und flehte ihn um Hülfe, und dann vermochte er nichts mehr gegen mich. Alle Tage gegen Mittag überfällt ihn ein so tiefer Schlaf, daß nichts in der Welt ihn aufzuwecken[169] vermöchte, und der Schlaf dauert eine ganze Stunde. Dort liegt er eben und ruhet.«

Gilbert blickte auf nach dem Gipfel des Berges und sah den Riesen auf dem Felsen schlafend, und der Riese schien ihm zum mindesten fünfzehn Fuß in der Länge zu haben.

»Kommt, schöne Jungfrau«, sprach da Gilbert und zog sein Schwert, »ich will euch von dem Ungeheuer erlösen.« – »Waget das nicht«, sprach das Mädchen, »er ist mit einem Wappenhemde angethan, durch welches kein Schwert dringen kann.« – »Dann stürze ich ihn in den Abgrund in die Semoy«, schrie Gilbert. – »Auch das vermöget ihr nicht«, entgegnete sie, »denn hundert Arme bringen ihn nicht von der Stelle.« – »Ei, dann fliehet mit mir«, fuhr Gilbert schnell fort, aber sie seufzte: »Das kann ich ja nicht; sehet ihr denn nicht, daß ich an den Felsen gefesselt bin? Wenn ihr mich aber retten wollt, dann steiget nieder ins Thal und gehet zum Schlosse meines Vaters; da wird man euch das große Eisennetz geben, welches mein Großvater den Sarazenen abnahm in den Ebenen von Tours. Damit allein können wir den Riesen fangen.«

Als sie noch so sprach, erwachte der Riese mit großem Geräusche, und Gilbert verließ die Jungfrau, das Herz voll Liebe und Sehnsucht. Er stieg nieder und ging in das Schloß ihres Vaters, und der Wächter gab ihm das Eisennetz, und am andern Tage gegen Mittag kehrte er zurück und verbarg sich in dem Gebüsche, um des Riesen zu warten. Es dauerte nicht lange, und er kam und ging auf die Seite des Felsens und schnitt sich eine Pfeife. Da rief Julia, so hieß die Jungfrau, den Ritter, und er gab das Netz, und sie breitete es aus auf dem Felsen und bedeckte es mit Moos und Blumen, damit der Riese nichts merke. Als nun das Ungeheuer kam[170] und die Blumen sah, da lächelte er und dachte, die Jungfrau würde ihm nun bald zu Willen sein. Kaum aber war er eingeschlafen, als sie das Netz über ihm zuzog und Gilbert zurief, den Riesen zu binden. Solches that der Ritter, und die Jungfrau bat alsdann, daß er sie nun lösen und nach ihres Vaters Hause führen möge; doch das wollte Gilbert noch nicht, denn er fürchtete, der Riese möge das Netz brechen. Er trat zu ihm hin und versuchte, ihn in den Abgrund zu werfen; das konnte er aber nicht; der Riese erwachte über den Anstrengungen und heulte fürchterlich, als er sich gefangen sah, und wollte aufspringen und das Netz zerreißen. Das benutzte der Ritter und warf ihn hinunter in die Semoy, wo er in Stücke gebrochen ankam.

Alsdann führte Gilbert die Jungfrau zurück zu ihres Vaters Hause, und wenige Wochen nachher verband beide der Segen des Priesters. An dem Orte, wo sie einst gefesselt lag, erbaute er das schöne Schloß Bouillon. Aus seinem Stamme entsproß später der edle Gottfried, welcher Jerusalem eroberte.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 168-171.
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