[197] 120. Die Hühnerfresser von Audenaerde.

Handschriftliche Chronik von B. de Rantere. Im »Belgisch Museum.« 1841. S. 441. Mitgetheilt von Dr. van der Mersch.


»Hühnerfresser« ist ein alter Spottname für die Bewohner der Stadt Audenaerde in Flandern. Seinen Ursprung verdankt er folgender Begebenheit.

Die Genter hatten seit uralter Zeit die Gewohnheit, auf den Märkten der umliegenden Städte, und besonders von Audenaerde, alle Hühner und anderes Wild durch ihre Kaufleute aufkaufen zu lassen.

Nun geschah es, daß auf den 23. Januar 1438 eine große Versammlung der Abgeordneten aller Städte, Herrlichkeiten u.s.w. von ganz Flandern zu Gent gehalten wurde. Als alle vereinigt waren, kam unversehens auch Graf Philipp der Gute mit einer großen Zahl edler Ritter, um derselben beizuwohnen.

Die Genter, welche den Grafen recht festlich bewirthen wollten, sandten alsbald ihre Handelsleute nach Audenarde, um auf dem dortigen Markte alle Hühner und Kapaunen zu kaufen, welche sie nur finden möchten; und daran war ihnen um so mehr gelegen, als solch Geflügel bei der Strenge der Jahreszeit nicht sehr häufig war. Die Handelsleute thaten, wie ihnen befohlen worden, und kauften alles, was auf dem Markte war, zu sehr theuren Preisen an. Als die Bürger von Audenarde davon hörten, wollten sie das nicht leiden, wie sie überhaupt[197] seit der Belagerung von Calais nicht recht einig mehr waren, und sich gegenseitig allen möglichen Tort anthaten. Sie sprachen zu den Gentern: »Wir können unsere Hühner sehr wohl selbst aufessen«, und anderes noch. Darob erzürnten die Genter und wollten sich widersetzen, und also entstand ein Auflauf und man wurde handgemein und kämpfte mit solcher Wuth von beiden Seiten, daß ein Genter todt blieb und mehre andere verwundet wurden. Die übrigen flüchteten aus der Stadt und ließen ihre Hühner und Kapaunen im Stiche; über die machte sich das kleine Volk her, während die andern von Audenaerde schrieen: »Schlagt todt! schlagt todt! Wir wollen hin für der unsere Hühner selber fressen.« Daraus ist der Spottname entstanden: »die audenaerdschen Hühnerfresser«.

Als die Genter nun sonder Hühner nach Hause kamen, konnten sie dem Grafen diese Speise nicht auftischen, und darüber beklagten die Schöffen sich bitterlich bei ihm und baten ihn um Recht und Gerechtigkeit, nahmen auch alsbald den Junker Walter van der Meere und Bernard van Marke, beide Abgeordnete von Audenaerde, gefangen.

Der Graf zog nicht lange nachher von Gent und ging nach Audenaerde; daselbst erzählte man ihm gleichfalls den ganzen Vorfall und gab ihm und seinem Gefolge eine prächtige Mahlzeit, wobei es natürlicherweise an Hühnern keineswegs mangelte. Darauf schrieb der Graf einen Brief an den Magistrat von Gent und befahl, die beiden Herren von Audenaerde frei zu geben, welches auch alsbald geschah.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 197-198.
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