[251] 156. Das ungetaufte Kind.

Vaernewyck, Historie van Belgis. Fol. 139.


Im Jahre 1528 geschah zu Roosbeke ein wunderbar Ding. Da war nämlich eine Frau, die eines todten Kindes genaß und, sehr bedrückt darüber, ihr Leid unserm lieben Herrn und Sankt Gangolf klagte. Das Kind wurde außerhalb des Kirchhofes am Ende eines Stalles begraben, in der Nähe der Schenke zum Helme, und es war auf Sankt Lucas Tag. Bald nachher hörte man um die Herberge groß Gekärme und Gestöhne bei Nacht, wie bei Tag, und[251] das vermehrte sich so, daß die Gäste, welche da schliefen, ihre Kammer veränderten; so angstvoll waren sie. Das dauerte neun Tage hinter einander und neun Nächte. Es kam endlich auch zu den Ohren des Pfarrers und des Oheims von dem Kinde, und der Vater ließ sich dadurch bewegen, das Grab zu öffnen. Als man das Todtenlädchen aufmachte, stieg ein lieblicher Geruch aus demselben, und als man das Kind ins Haus brachte und dem Feuer näherte, da liefen ihm drei helle Blutstropfen aus dem Näschen, es begann zu schwitzen, sein Herzchen wurde warm und sein Zünglein roth.

Der Pfarrer, welcher zugegen war, taufte das Kindlein alsbald, und da lebte es noch mehr auf und seine Wänglein wurden viel rother, als man je welche gesehen hatte. Es kam auch eine große Menge von Volk zugelaufen, denn jeder wollte das Kind sehen, welches also wunderbar neun Tage erhalten worden war.

Es lebte noch zwei Tage, dann erkalteten seine Glieder und die Rosen von seinen Wangen flohen wieder und auch das Roth von seinen Kirschlippchen. Als man es wieder in das Kistchen legen wollte, war dieses zwei Handbreit zu klein, so sehr war das Kind gewachsen. Man machte schnell ein neues Lädchen, und darin trugen es die Jungfrauen von Roosbeke zu Grabe in die Sankt Gangolfs-Kapelle.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 251-252.
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