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Das Mädchen, die ihre Jungferschaft hüten sollte[317] 13

Es war einmal ein Mädchen, die zu einer Hochzeit eingeladen war. Da sie nur wenig Verstand besass und ihr noch viel weniger zugetraut wurde, so sagte die Mutter zu ihr, sie solle ihre Jungferschaft sorgfältig hüten, denn dies wäre für junge Mädchen bei Hochzeitslustbarkeiten kein leichtes Ding; die Mannspersonen, wenn ihnen erst das Hochzeitsbier zu Kopf gestiegen, hätten glatte Zungen und griffen auch ohne weiteres zu. Das Mädchen versprach den Rath der Mutter genau zu beachten und ging auf die Hochzeit, wo sie sich die ganze Zeit über so vorsichtig benahm, dass sie weder zu tanzen noch zu trinken wagte. Ein junger Bursche nun, der ebenfalls auf der Hochzeit war und sie kannte, auch wol Gefallen an ihr fand (denn es war ein tüchtiges Frauenzimmer), fragte sie, warum sie sich so abseits hielte und weder tanzen noch trinken wollte. »Ja, das will ich dir wol sagen, versetzte das Mädchen,[317] meine Mutter hat mir eingeschärft, ich solle meine Jungferschaft sorgfältig hüten, so dass die bösen Mannspersonen sie mir nicht auf der Hochzeit fortstipitzen könnten.« – »Oh, sprach der Bursche, ist's nichts anderes als das? da brauche ich dir ja blos die Spalte zuzunähen, dann kann die Jungferschaft nicht heraus und du darfst dann tanzen und trinken und dich lustig machen so viel du willst, gerade wie die andern Mädchen.« Ja, darauf ging sie gern ein, und so stiegen sie auf den Heuboden hinauf, wo der Bursche tüchtig drauf los nähte, bis er zuletzt nicht weiter konnte und aufhörte. »Nicht doch, nicht doch, sprach dann das Mädchen, nähe nur immer zu!« – »Ja, aber ich kann nicht mehr,« antwortete der Bursche. – »Und warum kannst du nicht mehr?« fragte sie ungeduldig. – »Ich habe keinen Zwirn mehr,« erwiderte jener. – »Ei was! versetzte das Mädchen, ich fühlte ja eben noch zwei grosse Knäuel.«[318]

Quelle:
[Asbjørnsen, P. C.:] Norwegische Märchen und Schwänke. In: Kryptádia 1 (1883), S. 293-332, S. 317-319.
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