Der böse Blick.

[8] Es wohnte einmal ein reicher Edelmann in einem schön gemauerten Hause nicht weit vom Ufer des Weichselstromes. Alle Fenster des Hauses, das die Leute den weißen Hof nannten, gingen nach dem Wasser hin, nicht ein einziges zeigte die Landstraße oder die geräumigen Scheunen. Eine lange Lindenallee, die nach dem Edelhofe führte, war mit Gras und Unkraut bewachsen; daran konnte man leicht erkennen, daß die Nachbarn nur selten diesen einsamen Wohnsitz besuchten.

Der Herr des Hauses war erst vor sieben Jahren aus ferner Gegend hergezogen. Die Bauern kannten ihn fast garnicht und gingen ihm voll Angst aus dem Wege, denn man erzählte über ihn allerlei schreckliche Dinge.

Der Herr war an den Ufern des San1 von reichen Eltern geboren; aber das Unglück verfolgte ihn von der Wiege an. Er hatte den bösen Blick, der allen Menschen Krankheit und Tod brachte. Wenn er zur bösen Stunde seine Herde ansah, so starb das arme Vieh vor seinen Augen; wenn er etwas lobte, so verdarb es sogleich. Die beiden Eltern waren vor Kummer über des Sohnes Schicksal gestorben. Der Sohn, in der ganzen Gegend nur der verzauberte Herr genannt, verkaufte seine großen Güter und zog hierher an die Weichsel, wo er das schön gemauerte Haus bewohnte. Er litt keinen Menschen um sich und behielt nur einen alten Diener, der ihn als Kind auf den Armen getragen hatte und dem allein der böse Blick seines Herrn keinen Schaden tat.[9]

Der verzauberte Herr verließ selten das Haus, denn seine Augen verbreiteten Unglück, Krankheit und Tod. Darum saß auch immer im Wagen neben ihm der alte Diener, und der sagte ihm, wenn irgendwo ein Mensch, ein Dorf, eine Stadt zu sehen war. Dann legte der Herr die Hände auf seine unglücklichen Augen, oder auch er blickte starr auf ein Erbsenbüschel, das stets zu seinen Füßen lag. Ein verderbliches Auge konnte nämlich niemandem schaden, wenn man damit ein verwelktes Erbsenbüschel ansah; nur wurde davon das Erbsenbüschel noch dürrer.

Absichtlich hatte der Herr alle Fenster des schön gemauerten Hauses nach der Weichsel hin machen lassen: denn schon zweimal waren seine Scheuern in Brand geraten, da er zur bösen Stunde auf sie blickte. Trotzdem verwünschten ihn auch noch die Schiffer und zeigten mit Furcht auf die Fenster des schön gemauerten Hauses, von wo aus ihnen der böse Blick schon manche Krankheit gebracht hatte, und der Sturm beschädigte fast immer die Fahrzeuge, wenn sie am Landungsplatze gegenüber vom weißen Hofe anlegten.

Einmal faßte sich ein Schiffer ein Herz: er ruderte auf seinem Schiffchen zum weißen Hofe und verlangte den verzauberten Herrn zu sprechen. Der alte Diener führte den Schiffer in den Speisesaal. Der Herr saß eben bei Tische, und ungehalten darüber, daß ihn ein Fremder beim Essen störte, blickte er streng auf den Eintretenden. Sogleich bekam der Schiffer ein heftiges Fieber, und lautlos fiel er bei der Tür zu Boden.

Der alte Diener brachte den Mann auf Befehl seines Herrn auf das Schiffchen, fuhr mit ihm ans andre Ufer und gab ihm eine Menge Goldstücke. Der[10] Schiffer war noch lange krank. Da er später die ganze Geschichte erzählte und dabei den weißen Hof und den verzauberten Herrn recht schrecklich ausmalte, jagte dies den andern Schiffern noch größere Furcht ein. Von der Zeit an wendete jeder Schiffer, wenn er an dem weißen Hause vorbeikam, die Augen ab und betete zu allen Heiligen und zitterte vor Angst, wenn jemand vom bösen Blick des verzauberten Herrn zu sprechen anfing. –

Zehn Jahre waren seither verflossen. Der weiße Hof war noch immer der Schrecken der Nachbarn und der vorbeifahrenden Schiffer. Niemand besuchte den verzauberten Herrn, und der Unglückliche verlebte einsam alle Stunden des Tages.

Ein harter Winter kam. Scharenweise heulten die Wölfe mit furchtbarer Stimme rund um den weißen Hof. Der Herr saß traurig am Kamin, auf dem ein großes Feuer brannte, und trübsinnig blätterte er in einem mächtigen Buche.

Der alte Diener hatte schon alle Türen des Hauses geschlossen, setzte sich auch ans Feuer, wärmte seine alten erstarrten Knochen und besserte dann und wann an seinem Fischernetze.

»Stanislaw«, sagte der Herr, »hast Du schon viele Fische gefangen?«

»Noch nicht viele, lieber Herr; aber für uns beide wird es genug sein.«

»Das ist wahr«, erwiderte der unglückliche Herr. »Wir beide, – wie viele Jahre sind wir schon allein! O unglückliche Stunde, in der ich geboren bin! Immer bin ich einsam, die Menschen fliehen mich wie ein[11] Ungeheuer.« Er trocknete die Tränen, die seine unglücklichen Augen benetzt hatten.

Plötzlich hörten sie draußen eine menschliche Stimme, die um Hilfe rief. Der Herr des Hauses erzitterte, denn er hatte schon lange keine fremde Stimme gehört. Der alte Diener eilte hinaus, und der Herr folgte ihm mit der Lampe in der Hand.

Vor dem Torwege stand ein verdeckter Schlitten, neben dem Schlitten stand ein alter Mann. Als er die beiden aus dem Hause kommen sah, hob er seine ohnmächtige Frau herab; der alte Diener half dann der Tochter, einer schönen Jungfrau, beim Aussteigen.

Man legte frisches Holz auf den Kamin, brachte die ohnmächtige Mutter an das wärmende Feuer, und der Hausherr ließ in geschäftiger Freude den alten Ungarwein aus dem Keller heraufholen und setzte dem Gaste mächtige Humpen vor. Der Diener lächelte heimlich, da er das frohe Gesicht seines Herrn bemerkte. Der Fremde war ein Edelmann. Er erzählte, wie sie sich verirrt hatten, dann von Wölfen angefallen wurden, und wie die flinken Pferde sie kaum hatten nach dem weißen Hofe hinziehen können.

Nach dem Abendessen wurde alles vom Schlitten heruntergeholt. Der Herr führte die müden Reisenden in ein warmes und bequemes Schlafzimmer. Bald war es still im weißen Hofe, und das Feuer auf dem Kamin flackerte bloß noch in schwachen Flammen. –

Es war nach Mitternacht. Der alte Stanislaw schlief am Herde. Da knarrte die Tür, und der Hausherr trat herein. Der Diener rieb sich verwundert den Schlaf aus den Augen und brummte: »Wie, schläft der arme Herr noch nicht?«[12]

»Still, alter Freund,« erwiderte der Herr mit froher Miene, »ich kann nicht einschlafen und möchte niemals einschlafen, wenn ich immer so glücklich wäre wie heute!« Und er setzte sich in den großen Lehnstuhl am Herde und lächelte in sich hinein und fing an zu weinen.

»Weine, armer Herr, weine nur!« dachte der alte Stanislaw bei sich selber; »mit den Tränen fließt Dir vielleicht der böse Blick davon.«

»Wenn mir der liebe Gott doch das geben wollte, woran ich jetzt denke,« sagte der verzauberte Herr, »ich wollte weiter nichts von dieser Welt verlangen. Dreißig Jahre schon lebe ich wie ein Einsiedler, wie ein Verbrecher. Und doch habe ich nie etwas Böses begangen, meine Seele ist rein vom Laster. Nur meine Augen, – – o meine Augen!«

Tiefe Trauer beschattete sein Antlitz, das eben noch so freudig gewesen war; doch bald erschien wieder das Lächeln auf seinen Wangen, und man konnte erkennen, wie wieder ein Hoffnungsstrahl in sein Herz leuchtete.

»Alter Freund,« sprach er, und Stanislaw schaute fröhlich drein, »ich werde vielleicht heiraten.«

»Das gebe Gott!« rief der Diener aus. »Aber wo ist denn Eure Zukünftige?«

Der Herr stand auf, zeigte mit der Hand nach der Seite, wo das Schlafzimmer der drei Gäste war, und sagte leise: »Dort!«

Stanislaw nickte mit dem Kopfe, als sei er sehr zufrieden mit der Wahl seines Herrn, und geschäftig warf er eine Handvoll Holz auf den Herd. Der Herr kehrte sinnend in sein Schlafgemach zurück. Der alte[13] Diener brummte in seinen Bart: »Gott geb es, Gott geb es!« Und allmählich schlief er wieder ein. –

Am folgenden Morgen erwachte der fremde Edelmann neugestärkt und erfrischt, doch war an Abreise noch nicht zu denken, denn die Frau lag in heftigem Fieber.

Wie froh war der Herr, als er erfuhr, die Gäste würden einige Zeit in seinem Hause zubringen!

Der fremde Edelmann war nicht gerade reich, aber er lebte als ehrlicher Mensch und nährte sich redlich. Der freundliche Wirt gefiel ihm recht gut, und eines Tages sprach er zu seiner Frau, mit der es schon viel besser geworden war:

»Hör mal, Gretchen, mir scheint, der Herr macht unsrer kleinen Marie gewaltig den Hof, und wie ich sehe, ist sie ihm auch nicht abgeneigt. Nun, mir könnte das nur gefallen.«

»I, das scheint Dir wohl bloß so!« erwiderte die Frau; aber im Grunde war es ihr lieb, daß ihr Mann dasselbe sagte, was sie sich im stillen auch schon gedacht.

»Der Mann ist nicht arm, er ist kein Springinsfeld, es fehlt ihm überhaupt an nichts,« fuhr der fremde Edelmann fort, indem er in der Stube auf und ab ging, »und unsre Kleine ist auch nicht bucklig und zum Heiraten eben alt genug.«

Nach dem Abendbrot trank der Gast wieder den alten Ungarwein, strich mit Wohlgefallen den grauen Knebelbart und hörte mit sichtlicher Freude, wie der Herr des Hauses ihn um seine Tochter bat.

»Ihr habt mir gut gefallen, Herr Bruder,« erwiderte er nach einer Pause, »und da Ihr nicht erst nach der Aussteuer fragt und an Eurem eigenen Brot genug habt, so mag sie denn meinetwegen Euer Weibchen werden.«[14]

Ein Vierteljahr darauf führte der verzauberte Herr die Braut heim. Unkraut und Gras verschwanden von der langen Lindenallee, denn viele Wagen rollten da ohne Unterlaß hin und her, Verwandte und Freunde der schönen Braut kamen scharenweise zur Hochzeit nach dem weißen Hofe.

Einige Tage später war es wieder still wie vorher, und auf der langen Lindenallee wuchs wieder Gras und garstiges Unkraut. –

Der Winter kam wieder. Obgleich das Schloß nun eine Herrin hatte, war es hier so einsam wie früher. Die Dienerschaft, die der Herr angenommen hatte, lief davon, als sie hörte, daß ihr Gebieter den bösen Blick habe. Einige, die geblieben waren, wurden bald von schweren Krankheiten darniedergeworfen. Die schöne junge Frau lag in Schmerzen auf ihrem reichen Lager. Der liebende Gatte saß bei ihr, und mit abgewandtem Gesichte drückte er ihre kalten Hände.

Das arme Weib wußte recht wohl von dem bösen Blick ihres Mannes, und ihre Leiden wurden dadurch noch größer. Trotzdem bat sie den Gatten in aufrichtiger Liebe, er möchte ihr doch einmal sein Gesicht wieder zuwenden.

»Meine Maria!« rief der Unglückliche mit tiefem Seufzer aus, »ich kann mit Dir nicht glücklich sein, solange ich diese Augen habe. O reiß sie mir aus! Hier ist ein scharfes Messer, – von Deiner Hand wird's nicht schmerzen!«

Die arme Frau schauderte bei diesem schrecklichen Verlangen. Der verzauberte Herr fing an bitterlich zu weinen: »Für andre Menschen sind die Augen ein Glück, meine Augen bringen Trauer und Unheil. Aber[15] das sage ich Dir: unser Kind soll meine Augen nimmer erblicken, – ihm sollen sie nicht schaden, und es wird dem Andenken seines Vaters nicht fluchen müssen!«

Ein leises Stöhnen war die Antwort der kranken Frau. –

Bald darauf wurde dem Schloßherrn eine Tochter geboren. In demselben Augenblicke, als das Kind mit lautem Schrei das Licht der Sonne begrüßte, da hörte man auch im Saale, wo das Kaminfeuer brannte, das herzerschütternde Geschrei eines Mannes: der Vater des Kindes hatte auf ewig vom Tageslichte den furchtbaren Abschied genommen. Zwei Augen, wie glänzende Kristallkugeln, fielen zugleich mit dem blutigen Messer zur Erde.

Sechs Jahre später gab eine Reihe glänzender Fenster wieder die Aussicht ins Dorf und auf die gefüllten Scheuern. Die Schiffer hatten am Fuße des weißen Hofes einen herrlichen Landungsplatz. Die Herrin des Hauses war gesund und munter, und ihre größte Freude war ein engelschönes Töchterlein, das manchmal den blinden Vater auf der Straße führte.

Die Landleute, die früher den verzauberten Herrn ängstlich gemieden hatten, gingen nun freundlich hinzu, wenn sie den Blinden mit dem kleinen Mädchen auf dem Spaziergang erblickten. Allenthalben verschwand die Grabesstille, denn zahlreiche Dienerschaft erfüllte die einst so einsamen Hallen des weißen Hofes.

Der alte Stanislaw hatte gleich an jenem traurigen Tage die verderblichen Augen tief neben der Gartenmauer vergraben. Einmal ergriff ihn die Neugierde: er wollte sehen, was aus den Augen geworden sei. Er fing an zu graben, – da glänzten ihm die Augen wie[16] zwei Lichter entgegen. Doch kaum hatte ihr Glanz sein Angesicht getroffen, da befiel ihn ein heftiges Zittern; er sank um und starb.

So hatten die verderblichen Augen des verzauberten Herrn dem alten Diener zum ersten und zum letzten Male geschadet. Einige Leute aber wollten wissen, sie hätten ihm früher deswegen keinen Schaden getan, weil ihn der Herr so sehr geliebt: das Herz nahm dem Blicke die Gewalt. Nun aber hatten die Augen in der Erde neue Kraft bekommen und den alten Diener getötet!

Der blinde Herr betrauerte ihn von ganzer Seele. Auf seinem Grabe ließ er ein schönes Kreuz errichten, und davor pflegten die Schiffer zu beten wenn sie am weißen Hofe landeten.

1

Fluß in Galizien, Nebenfluß der Weichsel.

Quelle:
Volkssagen und Märchen aus Polen von K. W. Woycicki. Breslau: Verlag von Priebatschs Buchhandlung, 1920, S. 8-17.
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