Der Stand der Unschuld.

[123] Vor grauen Jahren lebte ein Mensch, dessen Heimath und Wohnort das unendliche Meer war, das er auf einem Pfahl (słupek) von einem Ende zum andern befuhr. Eines Tages trieben die Wogen ihn ans Land, und dort fand er zu seinem Erstaunen ein Wesen, wie er es bis dahin noch nie gesehen hatte, – einen Menschen. Dieser wunderte sich nicht minder über das wunderbare Aussehen des Ankömmlings und seines Fahrzeuges und kreuzte sich, als er erfuhr, daß jener, in großer Unwissenheit aufgewachsen, von Gott nichts wisse. Aus Mitgefühl brachte er ihm das Vaterunser bei und lehrte ihn mit kurzen Worten des Menschen Wesen und Bestimmung kennen. Dem fremden Ankömmling gingen auf einmal die Augen auf. Er begab sich wieder auf das Meer, aber siehe! es trug ihn nicht mehr. Mit dem Vaterunser lernte er auch seine Schwäche erkennen, und nie gelangte er zu seiner früheren Kraft wieder.5 (Aus Gilgenburg.)

5

Obige Legende wird sich ohne Zweifel in sehr alten Quellen nachweisen lassen, doch vermag ich dies für den Augenblick nicht. Die sehr schöne Legende von dem Bette des Madai, welche mir von Klein Jerutten her mitgetheilt ist, übergehe ich, da sie in polnischer Sprache gedruckt ist in A. Poplinski's Ẃybór prozy i poezyi Polskiéj, 3. Aufl., Posen 1853, S. 139; ebenso die Legende: Andacht des Knaben, welche mir von Gilgenburg her zuging, gedruckt bei Poplinski a.a.O., S. 341, endlich die Legende: »Der Masure klüger als der Teufel«, welche ich in dem zu Preußen gehörigen Masuren nicht gehört habe, und welche auch wohl nicht auf die Bewohner dieses Landstrichs im Besondern zu beziehen ist, gedruckt bei Poplinski a.a.O., S. 115.

Quelle:
Toeppen, M.: Aberglauben aus Masuren, mit einem Anhange, enthaltend: Masurische Sagen und Mährchen. Danzig: Th. Bertling, 1867, S. 123.
Lizenz:
Kategorien: