Sage vom Goldapper Berge.

[126] In alter Zeit stand auf dem Goldapper Berge ein schönes Schloß, von einem mächtigen Herrn bewohnt, den aber Jedermann fürchtete, weil er als ein grausamer Räuber bekannt war. Das Gegentheil von ihm war seine Tochter (nach Andern waren es zwei), die das im Stillen gut zu machen suchte, was er übel gethan hatte. Als indeß seine Gewaltthätigkeiten und Ungerechtigkeiten ihr Maß erreicht hatten, verschwand plötzlich das Schloß mit Allem, was darin war, und versank in den Berg. Seit dieser Zeit läßt sich alle hundert Jahre in derselben Nacht von eilf Uhr Abends bis zum ersten Hahnenschrei die Jungfrau auf dem Berge sehen und wartet auf Erlösung, wann das Schloß, mit allen seinen Herrlichkeiten wieder emporsteigen, und sie als Gattin ihres Befreiers, diesen zum Herrn des Schlosses machen wird. Die Erlösung ist aber nicht leicht, wie es ein Bürger aus Goldapp erfahren hat. Er verirrte sich in einer Nacht auf den hohen Berg und sah dort eine weiße Gestalt umherwandeln. Obgleich ihm dieselbe freundlich winkte, zögerte er doch anfangs, bis er endlich ein Herz faßte und näher ging. Die Gestalt fragte ihn, ob er sie auf seinem Rücken bis zur Stadt tragen wolle, wodurch sie und das Schloß erlöst würde, jedoch dürfe er sich nicht umsehen. Er versprach es, hob sie auf seinen Rücken und schritt nach Goldapp zu. Bald aber hörte er hinter sich einen gewaltigen Tumult, als wenn wilde Thiere es auf ihn abgesehen hätten; da wurde ihm entsetzlich zu Muthe, er vergaß sein Versprechen, sah sich um und – fort war seine Last so wie das Geräusch. Von der Zeit an wurde der Mann tiefsinnig und starb auch bald darauf. Er war der letzte, der die weiße Gestalt gesehen hatte; vielleicht wird sie sich nach diesem Unfalle gar nicht mehr sehen lassen.9

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N. Pr. Prov.-Bl. 1847, Bd. 1, S. 478.

Quelle:
Toeppen, M.: Aberglauben aus Masuren, mit einem Anhange, enthaltend: Masurische Sagen und Mährchen. Danzig: Th. Bertling, 1867, S. 126.
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