5. Der Werwolf.

[97] In einem Dorfe bei Kruschwitz diente vor vielen Jahren ein Knecht, der mit einer Magd ein Liebesverhältnis angeknüpft hatte. Diese war aber eine grosse Zauberin. Davon erfuhr der Knecht, und er beschloss deshalb, das Verhältnis zu lösen. Als die Magd das bemerkte, wollte sie für die Untreue Rache nehmen. Als sie einmal mit dem Knechte zusammenkam, gab sie vor, sie wolle ihm die gelockerte Halsbinde fester knüpfen. Der Knecht, der nichts Böses ahnte, nahm diese Gefälligkeit an. Da zog die Magd die Binde fest zu, sagte einen Zauberspruch her, und aus dem Knechte wurde ein Wolf. Dieser lief hinaus in den Wald und mischte sich unter die anderen Wölfe. – Einige Jahre musste der Knecht als Wolf herumirren. In einem Sommer verband er sich mit anderen Wölfen zu einem Streifzuge. Sie umstellten einen Bauernhof, um einige Lämmer wegzufangen. Der Bauer war aber auf einen Empfang wohl vorbereitet, und die Wölfe mussten weichen und stoben nach allen Seiten auseinander. Der Werwolf hatte dabei das Unglück, von den Hunden umringt zu werden. Nirgends sah er einen Ausweg; schliesslich suchte er sich in einem Dornengebüsch zu verstecken. Inzwischen war das Halsband von Regen und Wetter mürbe geworden. Ein Dornenzweig streifte daran und riss es in Stücke. In demselben Augenblick fiel die Wolfshülle von ihm, und er wurde wieder ein Mensch. Er war aber von allen Kleidern entblösst. Deshalb verkroch er sich in dem Dornengebüsch bis zum Abend. Als die Dämmerung eingetreten war, ging er zu dem nächsten Bauernhofe. Hier versah man ihn mit Kleidern, die er hinter dem Herde anzog. In demselben Hause diente jetzt die Zauberin als Magd. Diese kam in die Stube, ohne zu wissen, dass der Knecht da war. Dieser erkannte sie sogleich und kam hinter dem Herde hervorgekrochen. Als die Magd ihn erblickte, war sie zuerst sehr erschrocken; dann aber sagte sie: »Schade, dass ich dich nicht eher gesehen habe.« Da nun in der damaligen Zeit auf Zauberei die Todesstrafe gesetzt war, so war ihres Bleibens hier nicht mehr; schnell verwandelte sie sich in eine Katze und sprang hinaus.

Andere erzählen, der Knecht hätte sich bloss mit der Magd gezankt Als sie nun beide zur Kirche gingen, wollte die Magd ihm vor der Kirche die Halsbinde zurechtrücken. Sie zog dieselbe aber fest an, und aus dem Knechte wurde ein Wolf. Darüber war er sehr erschreckt und stand still. Die Magd aber schrie: »Ein Wolf, ein Wolf!« Da kamen andere Leute herbei, und der Knecht musste weglaufen. Als er seine Wolfshülle wieder verloren hatte, ging er auf den Gutshof und erzählte dem Gutsherrn von seinem Schicksal. Dieser versteckte ihn und[97] liess dann die Magd herbeirufen. Sie leugnete, den Knecht jemals gekannt zu haben. Da kam derselbe aus seinem Versteck hervor, und die Magd rief ihm zu: »Hätte ich dich eher gesehen als du mich, so wärest du dein Lebenlang als Wolf herumgelaufen.«

Später erzählte der Knecht oft von seinen Erlebnissen in der Wolfsgestalt, und erinnerte er sich an den Hunger, den er da gelitten, so weinte er oft. Derselbe war oft so gross, dass die Wölfe hölzerne Schlittennägel, die auf dem Wege lagen, frassen. In strengen Wintern waren Pferdeäpfel ihre einzige Nahrung gewesen. Auch erzählte er, dass die Wölfe den heiligen Nikolaus als ihren Schutzheiligen anerkennen. Dieser bestimmt die Tiere, die sie fangen sollen. Jeder Wolf sieht alsdann über dem Tiere, das für ihn bestimmt ist, ein Lämpchen glühen. Obgleich Wolf, hatte der Knecht doch Zuneigung zu den Menschen. Er stahl deshalb Kinder, wo er solche bekommen konnte, und zog sie auf.

Über den Schutzheiligen der Wölfe – St. Martin oder St. Niklas – vgl. mein Volkstümliches aus der Tierwelt, Rogasen 1904, S. 56. In einer ähnlichen in den Blättern für pommersche Volkskunde 3, 125 abgedruckten Erzählung von der westpreussischen Grenze erscheint der heilige Michael als Schutzpatron der Wölfe. Er weist einem lahmen Wolfe einen auf einer Fichte sitzenden Bauer als Beute zu.

Quelle:
Knoop, Otto: Sagen aus Kujawien. In: Zeitschrift für Volkskunde 16 (1906) 96-100, Berlin: Behrend & Co, S. 97-98.
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