Die Hexe in Gulatsch.

[142] Acht Jahre sind es nun, daß hinter dem Dorfe Ruis im Walde, neben dem Schmuor (dem Wasser, das vom Panixer-Berge kommt), eine große, dürre Tanne stand, am Wege, der nach Andest führt. – Auf dieser Tanne soll eine Hexe gewohnt haben, und ihre Kleidung war ein langes, grünes Kleid, zudem trug sie einen großen gelben Strohhut.

Diese Hexe war vor Zeiten nicht da auf der Tanne, sie kam erst durch eine sonderbare Begebenheit auf Dieselbe. Es war nämlich in Ruis ein Bürger, Namens Thomas Tschuor, ein reicher Bauer, der aber eine böse Frau hatte, die ihn immer prügelte. Endlich hatte er doch genug davon, und eines Morgens ging er von ihr weg, nach seinem Berggute Valsins, wo er Vieh hatte, um auf Demselben einige Wochen lange zu bleiben. Er hatte seinen Knecht mit sich genommen, der ihm nun füttern half.

Eines Nachts machte der Bauer vom Lager sich auf, und ging fort, ohne daß der Knecht es bemerkte. Zur Fütterungszeit suchte der Knecht seinen Meister; der war nun aber nirgends zu finden,[142] weßhalb er sich entschloß, nach gethaner Arbeit im Stalle, ihn zu suchen. Er ging nach Ruis; der Bauer war auch dort nicht. Nun nahm er einige Nachbarn mit sich, und nach langem Suchen fanden sie den im Schneegestöber Umgekommenen unter einem Felsenvorsprunge auf der Wiese »l'acla Hans«, die am Wege nach Panix liegt. –

Vom Todestage des Bauern an war aber die böse Frau Desselben verschwunden; sie sei, hieß es, nur ausgegangen, jedoch konnte sie nirgends mehr aufgefunden werden. – Aber seitdem soll eben auf der großen dürren Tanne in »Gulatsch« eine Hexe gehauset und zur Winterszeit viele Füchse bei dieser Tanne sich versammelt haben, daß gar Mancher, der von Panix herabkam, kaum durchkommen konnte. – Zudem habe die Hexe immer grüne Tannzapfen heruntergeworfen oder sonstwie die Leute erschreckt.

In Folge eines heftigen Windes fiel die »wetterdürre« Tanne um, und ihr Fall hatte auch das Verschwinden von Hexe und Füchsen zur Folge.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 142-143.
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