Das Arcanum gegen die Pest.

[26] Zur Zeit, als die Pest unter dem Namen »der schwarze Tod« in Graubünden grassirte und unzählige Opfer forderte, so daß ganze Höfe ausstarben, machte man die Beobachtung, daß kein einziges Fänggen-Mannli oder -Wîbli von der Seuche hingerafft wurde, und kam zum Schlusse, daß dieselben ein Geheimmittel dagegen besitzen müßten. Ein Bauer wußte endlich mit List dieses Geheimmittel aus einem Fänggenmannli herauszukriegen. Dieses Mannli zeigte sich oft auf einem großen Steine, der in der Mitte eine bedeutende Vertiefung hatte. Der Bauer, dem dieses Lieblingsplätzlein des Fänggen wohl bekannt war, ging hin und füllte die Höhlung[26] des Steines mit gutem Veltlinerweine und verbarg sich dann in der Nähe. Nach einer Weile kam das Mannli zu seinem Lieblingssteine und blickte ganz verdutzt drein, als es die Höhlung desselben mit dem funkelnden Nasse angefüllt traf. Es bückte sich dann mehrmals mit dem Näschen über den Wein, hob dann wieder den Kopf, um wenigstens vom Geruche sich zu laben, winkte aber mit dem Zeigfingerle und rief: »Nei, nei, du überchûst mi net.« Endlich einmal, als es sich ganz nahe über den Wein gebeugt hatte, blieb ein Tröpfchen desselben am Schnäuzchen hängen; das Mannli leckte mit der Zunge dieses Tröpfchen ab. Da stieg die Begierde, und es sagte zu sich selbst: »Ei, mit dem Finger tunken darfst du schon.« Gesagt, gethan; es leckte das Fingerle wohl hundertmale ab, wurde dabei immer lustiger und fing nachgerade an, allerlei Zeugs vor sich hin zu schwatzen. Da trat der Bauer wie zufällig herbei und fragte das Mannli, was gut sei gegen die Pest. »Ich weiß es wohl,« sagte das Mannli, »Eberwurz und Bibernella – aber das sage ich dir noch lange nit.« – Jetzt war der Bauer schon zufrieden und nach dem Gebrauche von Eberwurz und Bibernell starb Niemand mehr an der Pest.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 26-27.
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