Die Fänggen.

[85] Eine interessante Dämonengruppe bilden die Fänggen, von denen in Vorarlberg und Graubünden viele Sagen gehen. – Wie in Tyrol die »Riesen«, die Männer der Fänggen oder wilden Frauen, gab es auch in Graubünden männliche und weibliche Fänggen, letztere oft »Waldmuettern« geheißen.

So schauerlich und unhold die Fanggen oder wilden Frauen im Tyrol, sind die Fänggen in Graubünden denn doch nicht. Es ist bemerkenswerth, daß diese Fänggen in Bünden nur in den deutschen Thälern: Prätigau, Davos, Schanfigg, Savien und im Gebiete von Churwalden hausten.

Sie waren ursprünglich ein gewaltiges, ächt deutsches Waldriesen-Geschlecht, das aber im Laufe der Zeiten zu einem minder ansehnlichen, freundlich gesinnten Zwergvölklein herabsank, das immer gutdeutschen Sinn und gutdeutsche Art hartnäckig behauptete.

Die Sage mißt den Waldfänggen gewaltige Stärke, Körpergewandtheit, Schalkhaftigkeit, Witz, List, genaue Wetter- und Kräuterkenntnisse, wie auch den Besitz von Geheimnissen für Alpenwirthschaft und Viehzucht bei, welche dem zahmen Bewohner des Landes theils nie zum Wissen gelangten, theils wieder verloren gegangen sind; auch waren ihnen Goldadern bekannt.

Ihre Kleidung bestand in umgeworfenen Fellen von Füchsen, Dachsen, Mardern und andern Vierfüßern, aber meist kleideten nur die weiblichen Fänggen sich damit.Letztere bereiteten auch aus dem Fette, dem Knochenmarke[85] und der Galle verschiedener Thiere einen Firniß, mit welchem sie sich bestrichen und der sie im Winter gegen Kälte schützte. Die männlichen Waldfänggen schildert die Sage über und über behaart und mit Eichenlaub bekränzt.

Die Fänggen in Graubünden lebten gesellig. Ihre Behausung war gewöhnlich der Wald, wo sie in Höhlen ihre Familienwohnungen eingerichtet hatten, besetzten und hartnäckig vertheidigten.

Außer dem allgemein bezeichnenden Namen führten sie noch einen eigenen, ihrem Gewande, ihrem Wohnorte, ihrer Persönlichkeit entnommen, z.B. »Stuzza-Muzz« (Stutzkatze), »Hoch-Rinta« (hohe Rinde), »Joch-Rumpla«, »Joch-Ringgla«, »Mugga-Stutz«, »Ruch-Rinda«, »Ur-Hans«, »Giki-Gäki«, »Uzy«.

Die Sprache der Waldfänggen war durchschnittlich deutsch, doch kamen in derselben auch ganz eigenthümliche Worte und Wortformen vor, so hieß bei ihnen die Gemse »Gazi«, eine Frau »Muter«, ein Mann, »Bamba«, ein Mädchen, »Puppa«, ein Knabe »Masi«, gutes Wetter »Heitrige«, schlechtes Wetter »Rühe«, eine Höhle »Balma«, für gehen hatten sie kein Wort, weil sie stets liefen, laufen hieß »gamben«, essen »worgen«, trinken »schlucken«.

Lebten sie nun im Waldesdickicht harmlos beisammen, zogen sie dann vorzugsweise in die Alpen hinauf, in die Dörfer hinab, wo sie nützlich sein konnten, denn sie waren durchaus dem Menschen gut und dienten ihm treu und um die geringste Gabe. Wurde ihre Gutmüthigkeit und Offenherzigkeit aber mißbraucht, so machten sie sich grollend davon und kamen nimmer wieder. – In denAlpen hüteten sie das Vieh, und unter ihrer Obhut verunglückte keine Heerde, gedieh gegentheils aufs Beste. Den Sennen gaben sie oft gute Räthe und bedingten sich zum Tageslohn nur ein Bischen Milch oder oft nur den Schaum derselben, das schmeckte ihnen! Zuweilen theilten sie dem Viehbesitzer ihre Geheimmittel für Alpenwirthschaft und Viehzucht mit, warnten sie vor den Unwettern und gaben ihnen freiwillig oder gezwungen dann und wann ein Arkanum gegen Krankheit oder die Pest. Ein altes handschriftliches Kräuterbuch im Prätigau zählt u.A. alle Pflanzen auf, die den Fänggen, auch den Hexen, zu eigen gewesen, deren Gebrauch nur ihnen bekannt war, und gibt viele Mittel und Wege an, die Geheimnisse derselben zu enthüllen. – In den Dörfern hüteten sie die Heimkühe oder die Ziegen und waren gerne Spaßmacher, oft Schälke, doch stets harmlos und treu; ihnen war nichts so zuwider, als Verrath und Falschheit der Menschen. Suchte man sie zu überlisten, waren sie bald auf und davon.

[86] Wie sie gern den Menschen dienstbar waren, nahmen sie auch freudig den kleinsten Willen für die That.

Man will einer unbändigen Abart von Fänggen das nimmersatte Gelüste nach Menschenfleisch aufbürden; aber dies müssen Ueberläufer der Riesen aus Tyrol sein, die in Graubünden acclimatisirt, mit den Fänggen in Verwandtschaft gerathen, ihr natürliches Bedürfniß an Menschenfleisch nicht von sich geben konnten.

Einen Zug haben die Fänggen mit den Riesen gemein, auch sie hassen das Glockenläuten. So seien z.B. die Waldfänggen in Val Davos bei Furna durch das erste Läuten der neu angeschafften Glocken für immer vertrieben worden.

Den Zwergen gleichen die Fänggen darin, daß sie wohlgestaltete Kinder der Menschen aus der Wiege entwenden und an deren Stelle »Wechselbälge«, Eigene, die etwa mißgestaltet sind, legen, um ihre Art dadurch zu verbessern.

In einigen Zügen gleichen die Fänggen aber auch den Elben, so wissen wir, daß die Fängginnen schönen Jünglingen nachstellten.

Gar oft übernahmen die Fänggen auch die Rolle der Hausgeister und Kobolde und waren, gesucht oder ungesucht, dem Menschen gerne zu Diensten bereit.

Dadurch, daß die Fänggenkinder (meist nur Töchtern) in Bauernhäusern groß gezogen wurden und als Mägde treu und fleißig dienten, schlug sich zwar eine Kulturbrücke vom Menschengeschlechte zu diesem weiblichen Riesengeschlechte hinüber, aber fest war diese Brücke nicht, denn die Fänggentöchtern vom Tyrol her bequemten sich nicht zum Christenthum, beteten nicht, gingen nicht in die Kirche und hatten die möglichste Scheu vor dem h. Kreuzeszeichen – mit einem Worte, sie bewahrten ihre altdämonische Natur.

Die spätere Zeit schwächte das gewaltige, übermächtige Wesen der Fänggen bedeutend ab. Aus den riesigen »Waldmuettern« wurden kleine »Waldweiblein« und statt dem gewaltigen »Waldfänggengaißler«, dessen Stab eine entwurzelte Tanne war, begegnet man nunmehr einem kaum drei Fuß hohen »wilden Fänggenmannli«, das um ein Näpfchen Milch täglich dem Bauern das Vieh hütete. Diese abgeschwächten und verkümmerten Fänggen vertauschten denn auch ihre frühern ursprünglichen Wohnsitze, die mächtigen Urwälder mit finstern Höhlen (Balmen)und Löchern. Solche »Fänggen-Balmen« findet man noch besonders am Räticone.

[87] Im Laufe der Zeit verwirrten sich die Fänggen-Sagen so miteinander, daß man die dämonischen Wesen, denen man unter dem Namen »Fänggen« in den Sagen begegnet, zu den Zwergen, Elben, Hausgeistern zählen muß.

Die Zwerge in Bünden nun waren die Nachkommen der Fänggen und trugen zwar nicht ihre Gestalt, doch aber deren Geschicklichkeit, Gewandtheit und Eigenthümlichkeiten zu Erbe; sie suchten die Nähe und Hülfe der Menschen und belohnten jeden kleinen Dienst vielfach.

Wie die Zwerge über Fluh und Tobel sprangen und nicht ermüdeten, hielten auch die Fänggen jeder Gemse Schritt. Auch die Fänggenweiblein konnten die steilsten Bergwände erklimmen, und hatten sie etwa ein Kind mitzunehmen, so banden sie sich dasselbe mittelst ihrer langen, hellblonden, fast silberweißen Haare auf dem Rücken fest; Kinder, die neben ihnen herliefen, banden sie an ihren Aermlein fest. – Zu dieser Tüchtigkeit im Steigen und Springen gelangten sie vorzüglich durch das Herausschneiden der Milz, wodurch sie das im Laufen so hinderliche »Milzstechen« auf immer beseitigten. – Nicht minder trug zu ihrer Fertigkeit im Laufen und Springen ihre Nahrung bei, die hauptsächlich Milch gezähmter Gemsen war. Schon die neugebornen Kinder ließen sie an gezähmten Gemsen saugen; der Genuß solcher Milch nahm ihnen den Schwindel. Die rauhe Nahrung der Hirten war ihnen zuwider. Außer Gemsenmilch genossen sie auch Eier von Schnee- und Perlhühnern, und zur Sommerszeit waren die Heidelbeeren ihnen ein Leckerbissen. – Aus der Gemsenmilch bereiteten sie auch kleine Käslein, die zuckersüß waren und Einem im Munde vergingen.


In der Sage von der Fänggin »Madrisa« finden wir den vorzüglichen Reichthum der Alpen am Madrishorn an milchreichen, aromatischen Kräutern ausgedrückt und auf das herrliche Gedeihen des Viehes, das in diesen Alptriften weidet, hingewiesen.


Die Frau mit den Kohlen, die in Gold sich verwandeln, haben wir u.A. auch in Furna.


Das Schröpfen und Aderlassen war früher in Currätien ungemein im Schwunge, und man glaubte nicht gesund zu sein und bleiben zu können, ohne jährlich wenigstens einmal Blut sich abzapfen zu lassen. – Der »Tamerlan« ließ aber nie einen Schröpfkopf in Leibesnähe kommen und blieb dennoch gesund, und unser Fänggenmannli scheint dessen Stärke gerade diesem Umstande zuzuschreiben.


[88] Die »Bôschga« ist eine von der Landquart zwischen Serneus und Klosters gebildete Insel, und die Art und Weise besonders, wie man den von Fänggen gelegten Wechselbalg vom Halse sich schaffen kann, kommt in vielen Zwergsagen vor. Immer kommt es darauf an, den Wechselbalg zum Selbstgeständnisse seines Alters zu bringen.

Dieser Wechselbalg war demnach so alt, daß er die Bôschga fünf Male als Wiese, dann bewaldet, wiederals Wiese u.s.w. gesehen hat.


Der Schall der Morgenglocke nimmt den Fänggen die Macht, Böses auszuüben, und dem Satanas die Kraft, zu schaden; erst wenn die Abendglocke verstummt, werden die Unholde wieder Meister, müssen aber ausharren, bis es wieder läutet.


Von Fänggen als Menschenfresser gibt Suttermeister im »der Harige« und Birlinger in der Sage vom »Grafen von Stadion« Varianten.


Einer bedeutenden Anzahl elbischer Wesen begegnet man, wie in Vorarlberg, auch in Bünden unter dem Namen »Bütz«; der Singular lautet »Butz« m. – Man hört auch ein Diminutivum »Bützele« von kleinen, im Wachsthum zurückgebliebenen Kindern. »Bützele« sind auch Knötchen in der Haut, die von einem Butz Einem angeblasen werden.

In Bünden ist der Butz »Butzibau« eine vermummte Person.

Grimm bezeichnet die Bütze dem Namen nach als Poltergeister, und weist ihnen eine Stelle unter den Hausgeistern und Kobolden an. – Ursprünglich mochten diese polternden Hausgeister mehr elbischer Natur, und gut und freundlich gewesen sein, allmälig aber sank der alte, trauliche und getreue Hausfreund des Heidenthumes zum Schreckbilde und Gespötte der Kinder herab. »Der Butz kommt« jagt den Kleinen panischen Schrecken ein.

Der Butz erscheint in Haus und Stall, in Alp- und Mayensäß-Hütten, in der Küche, selbst unter dem Herde,ganz nach der Art der Hausgeister; aber auch in Seen, in Töbeln, in Wäldern und Rüfen zeigt er sich, daher die verschiedenen Benennungen: Hausbutz, Kellerbutz, Tobelbutz, Alpbutz, Waldbutz, u.s.w.

In jeglicher Gestalt und Eigenschaft hat der Butz mächtig Geschäft, und der Erfolg seiner Arbeit ist gar verschieden, dem Einen zum Heile, dem Andern zum Unheile. –

Es gibt aber auch Bütze, die mit den Menschen eigentlich nie in Berührung kommen, und von Letztern nur durch Zufall gesehen werden.

[89] Die Bütze, Geister und Gespenster, Unholde und Umgehenden spielen in den Bündnersagen eine hervorragende Rolle.

In dem Ungeheuer im Lüscher-See ist die zerstörende Wassergewalt symbolisch dargestellt, welche noch jetzt durch unterirdische Abflüsse jenes Sees einem Theile des Alpengeländes Tschappina den Untergang droht.


Die Sage vom Krachemannli hat Flugi in Poesie: »Die gewonnene Alpe«. – In Ragatz geht die gleiche Sage; die näherbezeichnete Stelle heißt noch heute »Löffelgut«.


Walther Senn in seinem schönen Werke »Charakterbilder« gibt in Band I. pag. 311–322 eine Variante der Sage von dem Handbuben, der Jauchzen und Jodeln lernte. Er läßt dort den »Res« das Alphornblasen und Jodeln erlernen. Sagen undMärchen vom Jauchzen-, Singen-, Pfeifen-, Flötenblasen-, Waldhornblasen-Lernen finden wir in Bern, St. Gallen, Uri, Luzern, in ganz netten Varianten.


Der Drache, der Lintwurm (die geflügelte Schlange) kommt in Bündner-Sagen da und dort vor, und zwar in verschiedener Gestalt und Wirksamkeit. Meistens stellt man sich ihn als riesige Schlange mit Krokodillenrachen, zwei ungeheuren Löwen- oder Vogelsfüßen (Adlerklauen), mächtigen Fledermausflügeln, Stachelkamm, Doppelzunge, gezacktem Schwanze mit Widerhacken, vor. –


Auch in der Schlucht beim Ausflusse des St. Morizer-Sees hauste ein Drache, dessen Schalten und Walten aber von geringer Bedeutung gewesen sein muß. Campell, der Vater rätischer Geschichte nennt Joh. Mallet, der denselben soll gesehen haben.


Die Sage vom versetzten Marchsteine kehrt in Bünden öfters wieder, so treffen wir sie in Peist, in Untervaz und in Tamins.


Das »Rucken« des Viehes soll daher kommen, daß ein Alp-Butz das Vieh in solche Jast bringt, daß es nicht mehr weiß, wo aus und wo ein. Das ist einer der Bütze, die es verstehen, sich unsichtbar zu machen, und der dann mit übermäßiger Begier seine Tücke an Mensch und Vieh ausläßt. – An der Casanna beschwörte ein Kapuziner »das Rucken«.


Eine Variante der Sage vom Tobel-Geiste geht auch anderorten, so z.B. in Tschiertschen, wo dieser Tobel-Geist der »Carmänna-Küher« genannt wird.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 85-90.
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