Schemjaks Richtsprüche1.

[144] Irgendwo in einem Lande lebten einmal zwei Brüder. Der eine war reich und der andere arm.

Einmal kam der arme Bruder zum reichen und bat ihn um ein Pferd, damit er Holz aus dem Walde holen könnte.

Der Reiche lieh ihm ein Pferd, da bat ihn der Arme auch noch um ein Kummet. Darüber wurde der andere unwillig und schlug es ihm ab.

Da beschloß der Arme, dem Pferde das Holz an den Schwanz zu binden und fuhr in den Wald. Er schlug soviel Holz, daß es das Pferd kaum schleppen konnte. Zu Hause machte er das Tor auf, vergaß aber den Querbalken wegzunehmen. Das Pferd sprang drüber weg, riß sich aber den Schwanz dabei ab. Der arme Bruder brachte dem reichen das Pferd ohne Schwanz zurück.

Als der das Tier so sah, nahm er es nicht gleich an, sondern wollte mit dem Armen erst zu dem Richter Schemjak gehen.

Der Arme ging hinter seinem Bruder drein und merkte, daß es schlecht um ihn stünde, daß für ihn[145] das Urteil auf Verbannung lauten würde, denn der Arme ist gezeichnet, weil er nichts geben kann.

Die Brüder kamen zu einem begüterten Bauer, den baten sie um ein Nachtlager.

Der Bauer gab dem Reichen gut zu essen und zu trinken, dem Armen aber gab er gar nichts.

Der Arme lag auf dem Ofen und sah zu, wie die anderen zwei unten lustig waren, dabei fiel er herab und erschlug das Kind in der Wiege.

Da beschloß der Bauer, mit den Brüdern zu gehen, um auch eine Klage gegen den Armen vorzubringen.

Sie gingen miteinander. Der Bauer und der reiche Bruder voran, der Arme hinter ihnen drein.

So kamen sie über eine Brücke. Der Arme überlegte, daß er ohnedies bei Gericht nicht mit dem Leben davonkäme und sprang von der Brücke, um sich zu töten. Unter der Brücke aber badete gerade ein Sohn seinen kranken Vater, und der Arme fiel auf den Alten und erschlug ihn.

Da ging der Sohn auch mit zu Gericht, um den Armen zu verklagen.

Der Reiche klagte vor Gericht, daß der arme Bruder seinem Pferde den Schwanz abgerissen habe.

Der Arme hatte einen Stein aufgehoben und in ein Tuch gewickelt und drohte damit, hinter dem Rücken des Bruders, dem Richter, dabei dachte er:

»Urteilt der Richter gegen mich, schlage ich ihn tot.«

Der Richter glaubte, der Arme biete ihm hundert Rubel für seine Angelegenheit und befahl dem Reichen, [146] daß er dem Armen das Pferd so lange überlassen müsse, bis diesem der Schwanz wieder gewachsen wäre.

Dann kam der Bauer und klagte, daß der Arme sein Kind erschlagen habe.

Der Arme hob wieder drohend denselben Stein gegen den Richter hinter dem Rücken des Bauern.

Der Richter vermutete, neue hundert Rubel für diesen Fall zu bekommen und befahl dem Bauern dem Armen seine Frau zu übergeben, bis wieder ein Kind da wäre.

»Dann nimm deine Frau und das Kind zurück.«

Jetzt klagte der Sohn, daß der Arme seinen Vater erschlagen hätte.

Der Arme nahm wieder seinen Stein aus der Tasche und zeigte ihn dem Richter.

Der Richter meinte, er bekomme hundert Rubel für den Spruch und befahl dem Sohn, auf die Brücke zu gehen. »Und du Armer geh hin, stell dich unter die Brücke; der Sohn soll auf dich springen und dich erschlagen.«

Richter Schemjak sandte seinen Diener zu dem Armen um die dreihundert Rubel.

Der Arme zeigte ihm den Stein und sagte:

»Hätte der Richter nicht für mich entschieden, so hätte ich ihn mit diesem Stein totgeschlagen.«

Da bekreuzte sich der Richter und sagte:

»Gott sei Dank, daß ich für ihn entschieden habe.«

Der arme Bruder ging zum reichen, sich nach dem Urteilsspruche das Pferd ohne Schwanz zu holen, bis der Schwanz nachwachse.

[147] Der Reiche wollte das Pferd nicht hergeben, gab ihm fünf Rubel Geld, drei Viertel Korn und eine Milchziege und schloß für alle Zeit Frieden mit ihm.

Da kam der Arme zum Bauern und wollte dem Urteilsspruche gemäß die Frau haben, damit sie bei ihm bliebe, bis wieder ein Kind da wäre.

Der Bauer machte Frieden mit dem Armen, gab ihm fünfzig Rubel, eine Kuh und ein Kalb, eine Stute mit einem Füllen und vier Viertel Korn und vertrug sich mit ihm fortan.

Der Arme ging zum Sohn, dem er den Vater erschlagen hatte, und hielt ihm den Richtspruch vor, nach welchem der Sohn von der Brücke auf ihn hinabspringen sollte, um ihn totzuschlagen.

Der Sohn überlegte aber:

»Springe ich, so erschlage ich ihn vielleicht nicht und stürze mich nur selbst zu Tode.«

Er machte Frieden mit dem Armen, gab ihm zweihundert Rubel, ein Pferd, fünf Viertel Korn und vertrug sich mit ihm.

1

Dieses Märchen gehört der Geschichte des XV. Jahrhunderts an. »Schemjakin-ssud« dient zur Bezeichnung eines aus Eigenutz gefällten Urteils. (Pawlowsky).

Quelle:
Afanaßjew, A. N.: Russische Volksmärchen. Wien: Ludwig, 1910, S. 144-148.
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