Schwesterchen Alenuschka und Brüderchen Iwanuschka.

[107] Es waren einmal ein Zar und eine Zarin, die hatten einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn hieß Iwanuschka und die Tochter Alenuschka.

Da starben der Zar und die Zarin und die Kinder blieben allein zurück. Da wanderten sie in die weite Welt.

Sie gingen, gingen und gingen, da kamen sie an einen Teich, an dem weidete eine Herde Kühe.

»Ich will trinken«, sagte Iwanuschka.

»Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Kalb«, sagte Alenuschka.

Er gehorchte und sie gingen weiter, da kamen sie an einen Fluß, da weidete eine Herde Pferde am Ufer.

»Ach, Schwesterlein, wenn du wüßtest, wie durstig ich bin!«

»Trink nicht, Brüderlein, sonst wirst du ein Füllen.«

Iwanuschka gehorchte und sie gingen immer weiter, da sahen sie einen See, an dem eine Herde Schafe entlang zog.

»Ach, Schwesterchen, ich bin entsetzlich durstig.«

[108] »Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Lämmchen.«

Iwanuschka gehorchte und sie gingen weiter, da sahen sie einen Bach, daneben weideten Schweine.

»Ach, Schwesterchen, ich trinke, ich bin so schrecklich durstig.«

»Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Ferkel.«

Iwanuschka gehorchte wieder und sie gingen immer, immer weiter, da sahen sie an einem Wasser eine Herde Ziegen.

»Ach, Schwesterchen, ich trinke.«

»Trink nicht, sonst wirst du ein Böckchen.«

Er hielt es aber nicht mehr aus, gehorchte der Schwester nicht, trank und wurde ein Böcklein, das sprang vor Alenuschka einher und rief: »Mäh! mäh!«

Alenuschka band ihm ihren seidenen Gürtel um den Hals führte ihn daran und weinte dabei bitterlich.

Das Böcklein lief und sprang voran, einmal lief es in des Zaren Garten. Da wurde es gesehen und gleich meldete man es dem Zaren.

»Eure Majestät, im Garten läuft ein Böcklein umher, ein wunderschönes Mädchen führt es an einem Band.«

Der Zar befahl, daß man das Mädchen nach ihrer Herkunft frage.

Da fragte man sie nach ihrem Namen.

»Das war so«, sagte Alenuschka. »Es waren einmal ein Zar und eine Zarin, die starben, da blieben wir Kinder zurück. Ich, die Zarewna, und mein Brüderlein, [109] der Zarewitsch. Er hielt sich nicht zurück, trank Zauberwasser und wurde ein Ziegenböcklein.«

Die Leute meldeten das dem Zaren. Der rief Alenuschka heran und fragte sie nach allem. Sie gefiel ihm so gut, daß er sie heiraten wollte.

Bald fand die Hochzeit statt und das Böckchen blieb bei ihnen, ging mit ihnen im Garten spazieren und aß und trank an ihrem Tische.

Als einmal der Zar auf die Jagd zog, kam eine Zauberin und verhexte Alenuschka, da wurde sie krank, mager und blaß und zugleich wurde alles im Zarenschloß auch traurig und matt. Die Blumen welkten, die Bäume verdorrten, das Gras verblich.

Als der Zar zurückkam, fragte er die Zarin:

»Bist du gar krank?«

»Ja«, sagte sie.

Am nächsten Tage ging der Zar wieder auf die Jagd. Alenuschka lag krank, da kam die Zauberin zu ihr und fragte:

»Willst du, daß ich dich heile? Wenn es dämmert, geh ans Meer und trinke dort von dem Wasser.«

Die Zarin ging bei beginnender Dämmerung ans Meer, da wartete schon die Zauberin, ergriff Alenuschka, band ihr einen Stein um den Hals und warf sie ins Meer.

Alenuschka sank bis auf den Grund und das Böcklein, das mitgelaufen war, weinte bitter, bitterlich.

Die Zauberin nahm der Zarin Gestalt an und kehrte in das Schloß zurück.

Der Zar kam heim und war froh, daß die Zarin wieder gesund war.

[110] Sie setzten sich zum Essen zu Tisch, da fragte der Zar: »Wo ist das Böcklein?«

»Wir brauchen es nicht,« sagte die Zauberin. »Ich gab Befehl, es nicht herein zu lassen, es riecht nach dem Stall.«

Kaum war der Zar am nächsten Tag auf die Jagd geritten, da quälte und schlug die Zauberin das Böcklein und drohte ihm:

»Wenn der Zar wiederkommt, dann bitte ich ihn, daß er dich schlachten läßt.«

Als der Zar zurückkam, quälte sie ihn und bat:

»Laß doch endlich das Böcklein abschlachten. Es ist mir so lästig, so widerwärtig geworden.«

Dem Zaren tat das Böcklein leid, aber sie quälte ihn und bat fortwährend, so daß er endlich einwilligte und erlaubte, daß man es schlachte.

Was war da zu machen! Das Böcklein sah, wie man das Messer für ihn wetzte und weinte; da lief es zum Zaren und bat:

»Zar, laß mich ans Meer gehen Wasser trinken, mein Därmchen ausspülen.«

Der Zar ließ es laufen.

Das Böcklein sprang ans Meer, stand am Ufer und rief kläglich:


»Alenuschka, Schwesterlein,

Schwimm, o schwimm ans Ufer schnell,

Das Feuerlein brennt gar so hell,

Das Wasser siedet im Kesselchen,

Gewetzt ist schon das Messerchen,

Sie wollen mich abschlachten.«


[111] Sie antwortete ihm:


»Iwanuschka, Brüderlein,

Zur Tiefe zieht mich der schwere Stein,

Der Drache zernagt mein Herzelein.«


Das Böcklein weinte und lief heim. Zu Mittag bat es wieder den Zaren:

»Zar, laß mich ans Meer gehen Wasser trinken, mein Därmchen ausspülen.«

Der Zar ließ es laufen, da sprang es ans Ufer und schrie kläglich:


»Alenuschka, Schwesterlein,

Schwimm, o schwimm ans Ufer schnell,

Das Feuerlein brennt gar so hell,

Das Wasser siedet im Kesselchen,

Gewetzt ist schon das Messerchen,

Sie wollen mich abschlachten.«


Sie antwortete ihm:


»Iwanuschka, Brüderlein,

Zur Tiefe zieht mich der schwere Stein,

Der Drache zernagt mein Herzelein.«


Das Böcklein weinte und lief nach Hause. Der Zar dachte:

»Was bedeutet das? Warum läuft das Böckchen immer ans Meer?«

Als das Böcklein ein drittesmal bat:

»Zar, laß mich ans Meer laufen Wasser trinken, mein Därmchen ausspülen.« Ließ der Zar es laufen,[112] folgte ihm aber nach und hörte, wie das Böcklein seine Schwester rief:


»Alenuschka, mein Schwesterlein,

Schwimm, o schwimm ans Ufer schnell.

Das Feuerlein brennt gar so hell,

Das Wasser siedet im Kesselchen,

Gewetzt ist schon das Messerchen,

Sie wollen mich abschlachten.«


Sie antwortete ihm:


»Iwanuschka, Brüderlein,

Zur Tiefe zieht mich der schwere Stein,

Der Drache zernagt mein Herzelein.«


Das Böcklein rief noch einmal, da stieg Alenuschka an die Oberfläche des Wassers und kam an das Ufer.

Sogleich ergriff sie der Zar, riß den Stein von ihrem Halse und zog sie ans Land. Er fragte sie, wie all das sich zugetragen habe und sie erzählte es ihm.

Der Zar freute sich und das Böcklein auch. Es sprang umher und im Garten blühte und grünte alles aufs neue.

Die Zauberin wurde getötet. Im Hofe errichteten des Zaren Leute einen Scheiterhaufen und sie wurde darauf verbrannt.

Der Zar und die Zarin lebten mit ihrem Böcklein fröhlich und zufrieden wie früher und aßen und tranken an einem Tische.

Quelle:
Afanaßjew, A. N.: Russische Volksmärchen. Wien: Ludwig, 1910, S. 107-113.
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