326. Das Zauberbuch und die Geissbuben.

[221] Zwei Geissbuben im Isental, die lieber im kühlen Schatten sich ausstreckten als den Geissen nachzulaufen, wurden von einem Bauer bei Haar und Ohren genommen, weil die Ziegen in seinem Land die leckersten Kräuter abgeweidet hatten. Aber das Urnersprichwort sagt nicht mit Unrecht:

»Jung Büeba und jung Hind sell mä niä räupfä, sy vergässet's nitt.«

Eines Tages fand der eine der zwei Taugenichtse zu Hause auf der Ruossdiele ein Buch, es war der Geistliche Schild, und, obwohl das Lesen sonst nicht ihre Leidenschaft war, lasen die zwei doch darin, und zwar immer eifriger. Da fanden sie endlich ein G'sätzli, das ihnen das Herz im Leibe lachen machte. Als sie wieder bei ihren Geissen waren, nahmen sie einen Tschoopen, klopften mit einem Stock aus allen Kräften darauf ein und lasen dazu im Buche eine gewisse Stelle von hinten nach vornen. Endlich kam der Bauer, der sie geohret hatte, in Schweiss gebadet, dahergelaufen und bat um Gotteswillen, mit prügeln aufzuhören. Alle Streiche, die die Buben dem Tschoopen zukommen liessen, sausten nämlich auf den Rücken des Bauers nieder.


Michael Imhof, 80 J. alt, Hinki-Michi, Isental.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 221-222.
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